Full text: [Teil 2, [Schülerband]] (Teil 2, [Schülerband])

An der Wiege des Dramas. 
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Da folgte am dritten Tage ein in diesen Kämpfen noch uner— 
probter Neuling, Sophokles aus Kolonos, nahe bei Athen, von an— 
gesehenem Stamme, Sohn eines wohlhabenden Bürgers. Ein vier— 
undzwanzigjähriger schöner junger Mann, hatte er bereits als Dichter 
und Komponist lyrischer Chorreigen Ansehen gewonnen. Zur Er— 
lernung der schwierigen Kunst der Tragödie war er bei dem Altmeister 
Aschylus in die Schule gegangen. Es genügte nicht, nur begeisterter 
Zuhörer im Theater zu sein, hier war ein jahrelanges emsiges Studium 
erforderlich. Die überaus feinen Regeln des Versbaues, die Er— 
findung und Zusammenfügung immer neuer Rhythmen, die dem Inhalte 
und der Stimmung des Textes sich anschmiegten, wollten geübt werden, 
dazu die musikalische Komposition, Melodie und Flötenbegleitung, 
und die Gesetze der Märsche und Tänze des Chores! Nun war der 
Tag gekommen, wo es für den jungen Sophokles galt, die erste 
Probe seiner vielseitigen Kunst vor den empfänglichsten, aber auch 
den anspruchsvpollsten und strengsten Zuschauern abzulegen. 
Erfüllt von dem Gefühle für den Ruhm der Heimat und dem 
frommen Glauben der Väter, hatte Sophokles mit kühnem Griffe einen 
auf der Bühne noch nie geschauten Stoff gewählt, der die stolzen 
Erinnerungen seiner Landsleute weden und den Beruf Athens, die 
Segnungen der an edle Sitte und heilige Scheu gebundenen Bildung 
über den Erdkreis zu tragen, verherrlichen sollte. 
Es war die wunderbare Sendung des jugendlichen Triptolemos, 
des Dreimalpflügers, welche Sophokles seinen Mitbürgern vorführte. 
Sie sahen den Jüngling, von seiner hehren Beschützerin, der frucht— 
reichen Demeter, ausgesandt und mit edlen Lehren ausgestattet, von 
ihrem Heiligtum in Eleusis auf geflügeltem Schlangenwagen aus— 
ziehen, um die attische Ähre und den attischen Pflug, verbunden mit 
der milden Gesinnung einer landbauenden Bevölkerung, bis zu den 
fernen Barbaren zu tragen; sie nahmen wahr, wie der Weltbeglüder 
nach manchen Abenteuern und Gefahren siegreich in sein Vaterland 
Attika heimkehrte und zu Ehren der Demeter das weit sich ver— 
breitende Saatfest der Thesmophorien einsetzte. 
Die mit allem Reiz attischer Jugendblüte verklärte Heroengestalt 
des Triptolemos, der vaterländische, den Ruhm Attikas kündende 
Inhalt des Dramas, der unvergleichliche Zauber der Sprache und 
der Rhythmen: alles zusammen riß die Gemüter hin und entflammte 
sie zu lebhaftem Beifall. Vorher war der Sieg des Äschylus un— 
zweifelhaft gewesen, jetzt begann die Wage der Entscheidung zu 
schwanken. Unerhört aber schien es, daß einem zweiunddreißig Jahre 
jüngeren Tragiker gleich bei seinem ersten Auftreten der Sieg zu leil 
werden sollte. 
Lorenz, Raydt, Rößger: Deutsches Lesebnch J 
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