An der Wiege des Dramas.
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Da folgte am dritten Tage ein in diesen Kämpfen noch uner—
probter Neuling, Sophokles aus Kolonos, nahe bei Athen, von an—
gesehenem Stamme, Sohn eines wohlhabenden Bürgers. Ein vier—
undzwanzigjähriger schöner junger Mann, hatte er bereits als Dichter
und Komponist lyrischer Chorreigen Ansehen gewonnen. Zur Er—
lernung der schwierigen Kunst der Tragödie war er bei dem Altmeister
Aschylus in die Schule gegangen. Es genügte nicht, nur begeisterter
Zuhörer im Theater zu sein, hier war ein jahrelanges emsiges Studium
erforderlich. Die überaus feinen Regeln des Versbaues, die Er—
findung und Zusammenfügung immer neuer Rhythmen, die dem Inhalte
und der Stimmung des Textes sich anschmiegten, wollten geübt werden,
dazu die musikalische Komposition, Melodie und Flötenbegleitung,
und die Gesetze der Märsche und Tänze des Chores! Nun war der
Tag gekommen, wo es für den jungen Sophokles galt, die erste
Probe seiner vielseitigen Kunst vor den empfänglichsten, aber auch
den anspruchsvpollsten und strengsten Zuschauern abzulegen.
Erfüllt von dem Gefühle für den Ruhm der Heimat und dem
frommen Glauben der Väter, hatte Sophokles mit kühnem Griffe einen
auf der Bühne noch nie geschauten Stoff gewählt, der die stolzen
Erinnerungen seiner Landsleute weden und den Beruf Athens, die
Segnungen der an edle Sitte und heilige Scheu gebundenen Bildung
über den Erdkreis zu tragen, verherrlichen sollte.
Es war die wunderbare Sendung des jugendlichen Triptolemos,
des Dreimalpflügers, welche Sophokles seinen Mitbürgern vorführte.
Sie sahen den Jüngling, von seiner hehren Beschützerin, der frucht—
reichen Demeter, ausgesandt und mit edlen Lehren ausgestattet, von
ihrem Heiligtum in Eleusis auf geflügeltem Schlangenwagen aus—
ziehen, um die attische Ähre und den attischen Pflug, verbunden mit
der milden Gesinnung einer landbauenden Bevölkerung, bis zu den
fernen Barbaren zu tragen; sie nahmen wahr, wie der Weltbeglüder
nach manchen Abenteuern und Gefahren siegreich in sein Vaterland
Attika heimkehrte und zu Ehren der Demeter das weit sich ver—
breitende Saatfest der Thesmophorien einsetzte.
Die mit allem Reiz attischer Jugendblüte verklärte Heroengestalt
des Triptolemos, der vaterländische, den Ruhm Attikas kündende
Inhalt des Dramas, der unvergleichliche Zauber der Sprache und
der Rhythmen: alles zusammen riß die Gemüter hin und entflammte
sie zu lebhaftem Beifall. Vorher war der Sieg des Äschylus un—
zweifelhaft gewesen, jetzt begann die Wage der Entscheidung zu
schwanken. Unerhört aber schien es, daß einem zweiunddreißig Jahre
jüngeren Tragiker gleich bei seinem ersten Auftreten der Sieg zu leil
werden sollte.
Lorenz, Raydt, Rößger: Deutsches Lesebnch J
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