273
wenn die Fittiche des Sturmes über die schaumgekrönten Wellenspitzen
dahineilen, den Gischt vor sich treibend gleich Schneeflocken, wenn die
Brandung zu deinen Fützen die Klippe in ihren Grundfesten erschüttert
und in ewigem Schlage sie untergräbt, sie benagt, bis sie hinabstürzt?
Doch nein, wo anders will ich dir das Wasser zeigen. Grosz,
majestätisch, überwältigend ist der Ozean in seiner Ruhe oder wenn
der Kampf der Elemente um ihn tobt. Willst du aber das Wasser
sehen in der Mannigfaltigkeit seiner Erscheinungen, wie es alles
durchdringt, wie es allgegenwärtig ist, dann folge mir den Strom
entlang, der träge sein Wasser dahinwälzt in unübersehbarer Breite,
von Auen und Sandbänken gehemmt und gespalten, hinauf zum
Flusse, wie er rasch und klar in der Sohle des Tales zwischen Erlen
und Weiden dahineilt, dem rüstigen Wanderer gleich. Komm zur
tanzenden Quelle, die hüpfend von Stein zu Stein mit dem Silber¬
glöckchentone des Tropfenfalls unter überhangenden Brombeer¬
gebüschen springt, das weiche Moospolster zu beiden Seiten mit
feinem Sprühregen begietzend! Wandre zum stürzenden Gietzbach,
der als wallender Staubschleier von der Felsenwand flattert, oder
zum tosenden Wasserfall, wie er sich Bahn bricht durch die Gebirgs-
schwellen, die Felsen, die sich ihm hemmend in den Weg drängen,
im Wogenschwall umschmetternd! Steige hinab in den Brunnen,
wo es geheimnisvoll siedend und brodelnd aufquillt aus der Spalte
des Gesteins wie das Blut aus zerschnittener Ader! Steig auch hinab
in die Eingeweide der Erde durch Gruben und Stollen und sieh,
wie es da von den Wänden schwitzt und tropft! Höre es arbeiten,
das Pumpwerk, das hier der Mensch geschaffen, um das ihm auf
Schritt und Tritt folgende Wasser zu bewältigen! Vergegenwärtige
dir die groszen Wasserbecken, die sich als Sickerwasser unter meilen¬
weiten Länderstrecken hinziehen, in die wir Menschen unsre Brunnen
hinabsenken, um das lebenschaffende Element wieder an die Ober¬
fläche zu fördern!
Doch damit nicht genug. Sieh an den weichen Schneemantel,
in den die Winter der gemäszigten und kalten Zone unsre Erde
hüllen, eine künstliche Wasserbedeckung schaffend! Schau' an die
Eismassen der Gletscher, wie sie in langsamem Laufe talwärts sich
schieben, Trümmer und Gestein vor sich auftürmend! Betrachte auch
die Eisberge, wie sie vom Pole herabschwimmen gleich gepanzerten
Heerscharen, Kälte verbreitend über ganze Weltteile, in Massen,
die jeder Vorstellung trotzen! Sieh, wie der Nebel herabsintt über
dich, aus Milliarden von staubkleinen Wasserkügelchen bestehend!
Sieh dir die Wolke an, wie sie, vom Winde getragen, dahinschwebt
in der blauen Höhe, und blicke auf die schwarze Wolkenwand, aus
Hirts Lesebuch. Ausg. v f. Westpr. II. Teil. 18