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. Da rafft sie all ihr bißchen Kraft zusammen und kriecht auf Händen
und Füßen zum Ofen. Glücklich findet sie noch einen Brand, schleudert
ihn in das Stroh ihres Bettes und eilt, so schnell sie kann, hinaus, sich in
Sicherheit zu bringen. Da stand das Häuschen augenblicklich in hellen
Flammen, und wie der Feuerschein vom Eise aus gesehen ward, stürzte
alles in wilder Hast dem Strande zu. Schon sprang der Wind auf und
fegte den Staub auf dem Eise vor ihnen her. Der Himmel ward dunkel,
und bald fing das Eis an zu knarren und zu schwanken. Der Wind wuchs
zum Sturm, und als eben die letzten den Fuß aufs feste Land setzten, brach
die Decke, und die Flut wogte an den Strand. So rettete die arme Frau
die ganze Stadt und gab ihr Hab und Gut daran zu deren Heil und
Rettung. Karl Mullenhoff. (Sagen. Märchen und Lieder usw)
32. Fürs Herzbluten.
1. Ich saß in einem Eisenbahnwagen dritter Klasse. Ratteratt, ratte—
ratt, ratteratt! Mir gegenüber saß ein stiller, oft traurig vor sich hinblickender
Mann, innig an ihn geschmiegt ein etwa vier Jahr altes, liebliches Mägdlein
mit großen, dunkeln Augen, aber blassem, schmerzhaftem Antlitz. Der
Mann war, wie der Augenschein lehrte, des kranken Kindes Vater. Er
hielt seinen rechten Arm um die Kleine geschlungen und drückte das von
braunem Haar umflossene Köpfchen von Zeit zu Zeit fest an sich, und wenn
er ihr etwas sagte, so nannte er sie Marie.
In Northeim wurde unsre stille Gesellschaft noch durch drei Personen
vermehrt, zwei junge Wildlinge und deren Vater. Frisch und fröhlich
sprang der blondhaarige Knabe mit seinem Schwesterchen herein, und
ebenso munter kam der Vater ihnen nach. Das war ein Lachen, Fragen
und Schwatzen ohne Anfang und ohne Ende. Doch vergaßen sie nicht,
uns freundlich zu grüßen.
Wie aus dem Geplauder unsrer neuen Reisegenossen hervorging,
fuhren sie zum fernen Mütterchen zurück, das mit großer Sehnsucht ihrer
harrte. Die beiden Kinder freuten sich so sehr auf das bevorstehende Wieder—
sehen, daß sie fast aus dem Häuschen gerieten. Wohl zwanzigmal fragten
sie wie aus einem Munde: „Vater, wieviel Stationen sind's noch bis zum
Mütterchen?“ Und der Vater wurde nicht müde, die Fragen seiner Lieb⸗
linge immer wieder und wieder zu beantworten.
2. Plötzlich verstummte die kindliche Redseligkeit, und das ferne
Mütterchen schien für einen Augenblick vergessen. Der Vater hatte näm—
lich drei Apfelsinen hervorgeholt und begann nun lächelnd, mit einem