Volltext: Lesebuch für die Oberklassen katholischer Volksschulen des Regierungsbezirks Düsseldorf

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345. Von der ersten Kaiserin im neuen Deut¬ 
schen Reich. 
Hermann Petrich. 
1. 
Von einer Reise vor der Hochzeit. 
Wieder hatte die Welt in junges Grün sich gekleidet, 
den Wäldern und Feldern las man die Hoffnung vom Ange¬ 
sicht, und es war, als ob sie einmütig im Chor von noch bes¬ 
seren, schöneren Tagen Weissagung täten. Über alle die zu¬ 
kunftsfrohe Herrlichkeit aber rieselte unaufhaltsam ein befruch¬ 
tender Regen herab, denn es war Pfingsten, der Pfingstsonntag 
des Jahres 1829, und wenn es zu Pfingsten regnet, dann seg¬ 
net der liebe Gott selber das Land, und die Menschenkinder 
sollen nicht unwirsch darein schauen, als ob es ihnen ihren 
lustigen Feststaat und ihre lustigen Gedanken verdürbe. Den 
richtigen Pfingststaat und die richtigen Pfingstgedanken kann 
kein Regen verderben. Sie schauten denn auch gar nicht un¬ 
wirsch darein, als nach beendetem Gottesdienst aus den Toren 
der alten Sachsenstadt Weimar ein stattlicher Zug von Wagen 
und Reitern in nordöstlicher Richtung heraus- und davonzog. 
Festlich geputzte Leute, junge und alte, hatten an den Straßen 
sich aufgestellt, die Reisenden noch einmal zu grüßen, und in 
jedem Dorf lein, durch welches die Fahrt ging, stand der Leh¬ 
rer samt seinen Schulkindern bereit, ihnen ein Lied zum Ab¬ 
schied zu singen. Als das letzte verklungen war, ging es zu¬ 
gleich mit dem Ilmfluß, der denselben Weg hatte, aus dem 
Lande hinaus ins Preußische hinein. 
Wer waren denn diese pfingstlichen Reisenden, die so 
feierlich geleitet wurden, und wo wollten sie hin? Der Prinz 
Wilhelm von Preußen war es, der zweite Sohn des Königs 
Friedrich Wilhelm III., und die' mit ihm fuhr, war seine ver¬ 
lobte Braut, die Prinzessin Augusta von Sachsen-Weimar, die 
er soeben sich abgeholt hatte, und nach Berlin zur Hochzeit 
und zur neuen Heimat wollten sie hin. Sie redeten mitein¬ 
ander von dem unbekannten Lande, das vor ihnen lag und 
dahinein sie ihre Hoffnungen und Wünsche als Kundschafter 
vorausschickten, und die Kundschafter kamen wie weiland 
Kaieb und Josua mit großen Trauben und fröhlicher Botschaft 
zurück. Daß die junge Braut aber noch einmal auf einem 
Kaiserthron sitzen und die erste Kaiserin im neuen Deutschen 
Kaiserreich sein würde, das verriet ihr der Bräutigam nicht, 
denn er wußte selber noch nichts davon. Wir aber wissen es,
	        
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