Full text: Lesebuch für die Oberklassen katholischer Volksschulen

493 
So einfaltig und ungeschickt baut kein Vogel. Was gilt’s? du 
Pfuscher hast es selber gemacht!“ Das würde der Fink zu 
dem Künstler sagen. 
Ebenso ist es mit einem verachteten Spinngewebe. Der 
Mensch kann kein Spinngewebe machen. Ebenso ist es mit 
dem Gespinst, in das sich ein Kaupenwurm einwebt, wenn 
seine Verwandlung angehen soll. Ein Mensch kann kein 
Raupengespinst machen. 
Ein Wort mehr! Alle Finkennester in der Welt sehen 
einander gleich, vom ersten im Paradiese bis zum letzten in 
diesem Frühlinge. Kein Fink hass vom andern gelernt. Jeder 
kann’s selber. Ebenso ist Spinngewebe, ein jedes nach sei¬ 
ner Art. Man weiss es wohl, aber man . denkt nicht daran. 
Koch ein Wort mehr! Das erste Nest eines Finken ist ebenso 
künstlich wie sein letztes. Er lernt’s nie besser. Ja, manches 
Tierlein braucht sein Gespinst nur einmal in seinem Leben 
und braucht nicht viel Zeit dazu. Es wäre übel daran, wenn 
es zuerst eine ungeschickte Arbeit machen müsste und denken 
wollte: Für dieses Jahr ist’s gut genug, übers Jahr mache 
ich’s besser. Noch ein Wort! Jedes Vogelnest ist ganz voll¬ 
kommen und ohne Tadel, nicht zu gross und nicht zu klein, 
nicht zu wenig daran und nicht zu viel, dauerhaft für den 
Zweck, wozu es da ist. In der ganzen Natur sind lauter 
Meisterstücke. Aber was der Mensch zur Geschicklichkeit 
bringen soll, das muss er mit vieler Zeit und Mühe lernen, 
und bis er’s kann, bekommt er manche Ohrfeige vom Meister, 
der selber kein vollkommener ist. Denn kein menschliches 
Werk ist vollkommen. Ist darum ein Mensch weniger als ein 
Fink? — Weit gefehlt! 
Denn erstlich nicht der Vogel baut sein Nest, und nicht 
das WjürBilein bettet sein Schlafbett, sondern der ewige 
Schopfes thut’s durch seine unbegreifliche Allmacht und Weis¬ 
heit, und der Vogel muss nur das Schnäblein und die Füfs- 
lein und, so zu sagen, den Namen dazu hergeben. Deswegen 
kann auch der Mensch kein Vogelnest und kein Spinngewebe 
machen. Gottes Werke macht niemand nach. 
Zweitens, wie der ewige Schöpfer an seinem Orte jedem 
Geschöpfe seine Wohnung bereitet, aber nicht auf gleiche 
Art, dem einen so, dem andern anders, wie es nach seinem 
Bedürfnisse und Zwecke recht ist, also hat er etwas von 
dem göttlichen Verstände dem Menschen lassen in die Seele 
träufeln, dass dieser nun nach seiner Überzeugung für man¬ 
cherlei Zwecke bauen und hantieren kann, wie er selbst 
meint, dass es recht sei. Der Mensch kann ein Schilderhaus-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.