Full text: Lesebuch für die mittlere und obere Stufe (Teil 3, [Schülerband])

4. Das Hafermus. 
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nach dem Kindlein schaut. Sie lächelt dem Keimchen entgegen, 
und es thut ihm wohl bis tief hinab in die Wurzel. 
„So 'ne stattliche Frau, und doch so gütig und freundlich!“ 
Aber was strickt sie? Nun, Gewölk aus himmlischen Düften! 
s tröpfelt schon, nun regnet es sanft, nun stärker und stärker. 
Da trinkt 's Keimchen sich satt, drauf weht ein Lüftchen und trocknet's, 
und es sagt: „Nun geh' ich nicht wieder unter den Boden, 
komme, was mag! hier bleib' ich und harre, wie mir's ergehet.“ 
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Esset, Kinder, und segn' es euch Gott, und wachst und gedeihet! 
Herbe Zeiten warten des Keimchens. Wolken an Wolken 
stehn am Himmel Tag und Nacht, und die Sonne verbirgt sich. 
Auf den Bergen schneit's, und Hagel prasselt im Thale. 
Hul wie kläglich jetzt mein Keimchen zittert und weinet! 
uͤnd der Boden ist zu, und es hat gar ärmliche Nahrung. 
„Ist denn die Sonne gestorben“, sagt es, „daß sie nicht scheinet? 
Oder fürchtet sie auch den Frost? Ach, wär' ich geblieben, 
wo ich gewesen, still und klein im mehligen Körnlein 
und daheim im Boden und in der feuchtigen Wärme!“ — 
Sehet, Kinder, so geht's; ihr werdet auch noch so sagen, 
wenn ihr hinauskommt und bei fremden Leuten dann mühsam 
arbeiten müßt und schaffen und Brot und Kleidung verdienen: 
„Wär' ich doch daheim beim Mütterchen hinter dem Ofen!“ 
Tröst' euch Gott! Es endet auch und wird vielleicht besser, 
wie's dem Keimchen ergangen ist. Am heiteren Maitag 
weht es so lau, und die Sonne steigt so kräftig am Berg auf, 
und sie schaut, was das Keimchen macht und giebt ihm ein Küßchen; 
und nun ist ihm wohl, und es weiß nicht zu bleiben vor Freude. 
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Allgemach prangen die Matten mit Gras und farbigen Blumen; 
allgemach duftet die Kirschenblüt und pranget der Pflaumbaum; 
allgemach wird der Roggen buschig, Weizen und Gerste, 
und mein Häferchen sagt: „da bleib' ich auch nicht dahinten!“ 
Nein, es breitet die Blättchen aus — wer hat sie gewoben? 
Und jetzt schießt der Halm — wer treibt in Röhren an Röhren 
aus den Wurzeln das Wasser bis in die saftige Spitze? 
Endlich schlüpft ein Ährchen heraus und schwankt in den Lüften; — 
sage mir nur ein Mensch, wer hat an seidenen Fäden 
da und dort ein Knöspchen gehängt mit künstlichen Händen? 
Nun, die Engel! wer sonst? Die wandeln zwischen den Furchen 
auf und ab, von Halm zu Halm und schaffen behende. 
Jetzt hängt Blüt' an Blüt' an der zarten schwankenden ühre, 
und mein Hafer steht wie ein schmuckes Bräutchen im Kirchstuhl. 
Nun sind zarte Körnchen drin und wachsen im Stillen; 
und mein Hafer beginnt zu merken, was er will werden. 
Kommt das Käferchen und die Fliege, sie machen Besuch ihm, 
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