Full text: Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten

Prosa. — Betrachtende Abhandlung. 261 
daß dieses Denkmal bald nur ein Werk der Schmeichelei werden möchte, eine 
solche öffentliche Anstalt verhindert. Indessen könnte es unter gehöriger Aufsicht 
seinen großen Nutzen haben. Wenigstens sehen wir nicht ab, was uns verhin— 
dern sollte, das Lob eines Vogtes in hiesigen Landen mitzutheilen, welcher zwar 
hor vielen Jahren bereits versorben, aber doch auch bei den altesten Männern 
in seiner Vogtei in so gutem und lebhaftem Andenken steht, daß man ihn aus 
ihrer Erzählung mit allen Zügen aufs genaueste beschreiben kann. Der Ort, 
wo er gestanden hat, thut nichts zur Sache. Diejenigen, so ihn gekannt haben, 
werden seinen Namen leicht exxathen, und die ihn nicht gekannt haben, doch 
Alezeit wünschen, daß er der ihrige gewesen sein möchte. 
Wir brauchen nicht anzuführen, daß er ein christlicher, redlicher und ge— 
wissenhafter Mann gewesen. Dergleichen allgemeine Tuͤgenden gehören nicht 
hierher. Seine Amtstreue und die Art und Weise, wie er sich in den ihm 
Wliegenden vornehmsten Pflichten verhalten, ist dasjenige, was wir aus der 
Abschilderung, die man uns von ihm gemacht, mit wenigem bemerken wollen. 
Wenn eine neue Landesordnung exlassen und von einigen übertreten wurde, 
sur er solche nicht sogleih zur Strafe. Er ließ erst die Uebertreter zu sich 
mmen, erklärte ihnen den Inhalt und die Absicht der Verordnung, ermahnte 
sie, solche in Zukunft zu benbachten, und übersah für diesmal ihren Ungehorsam, 
in dem richtigen Vertrauen, es sei dem Landesherrn mehr an einem gebesserten 
Unterthan, als an einigen Thalern Strafgeldern gelegen. Hörte er von ihnen 
hründe, welche die Verordnung beschwerlich machten, oder eine Einlenkung und 
UWblndetung zu erfordern schienen; so untersuchte er die Sache gründlich, be— 
lichtete darüber an die höhere Obrigkeit vollständig und zeigte die Mittel an, 
vodurch die löbliche Abficht der Landesobrigkeit mit der mindesten Beschwerde 
der Unterthanen füglicher erreicht werden könnte. 
Hatte einer eine Schuldforderung an den andern, so wandte der Gläubiger, 
he er ans Gericht gieng, sich aus bloßem Vertrauen allemal erst zu ihm; 
tr ließ dann hierauf den Schuldner rufen, fragte ihn, ob er der Schuld ge— 
ndig, und warum er nicht bezahle, und vermittelte dann insgemein die 
Sache zwischen beiden so, daß beide nach Möglichkeit und Gelegenheit zufrieden 
sin konnten. 
Erhob sich ein Streit zwischen seinen Leuten über Gerechtigkeiten; so gieng 
mit den ältesten und vernünftigsten Männern aus seiner vogtei nach dem 
dt wo der Streit war, hörte beide Theile mit Gelassenheit und berieth sich 
ann mit jenen erfahrenen Männern über die Art und Weise, wie der Stein 
des Anstoßes am besten gehoben werden könnte. Fand er dann, daß der eine 
der der andere Theil sich nicht nach ihren billigen Vorschlägen bequemen 
bollte; so setzte er den Streitpunkt deutlich aus einander und die gutachtliche 
Meinung der zugezogenen Männer darunter, und gab solche dem unschuldigen 
helle zu seiner Vertheidigung ans Gericht mit, da denn nicht selten der 
Nichler seine Entscheidung danach einrichtete. 
Die Auflagen, welche seine Untergebenen zu zahlen hatten, forderte er nie 
jur unbequemen Zeit. Er borgte ihnen aber auch nicht drei Tage über die 
Stunde, worin sie ihrer Gelegenheit nach bezahlen konnten und mußten. Hier 
hielt er die größte Strenge nothwendig, weil er wohl wußte daß aller Auf⸗ 
hub in solchen Fällen nur denen zum Schaden gereicht, die ihn nehmen. Er 
annte eines jeden Vermögen und Gelegenheit und richtete allemal seine Maß— 
en so ein, daß der Faule angestrengt und der Fleißige nicht unterdrückt 
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