Full text: [Teil 2 = Oberstufe, [Schülerband]] (Teil 2 = Oberstufe, [Schülerband])

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übel daran, wenn es zuerst eine ungeschickte Arbeit machen müßte und denken 
wollte: „Für dieses Jahr ist's gut genug; übers Jahr mach ich's besser!“ 
Noch ein Wort mehr. Jedes Vogelnest ist ganz vollkommen und ohne 
Tadel, nicht zu groß und nicht zu klein, nicht zu wenig daran und nicht zu 
viel, dauerhaft für den Zweck, wozu es da ist. In der ganzen Natur ist kein 
Lehrlingswerk, lauter Meisterstücke 
Aber der Mensch, was er zur Geschicklichkeit bringen soll, das muß er 
mit vieler Mühe und Zeit lernen, und bis er's kann, bekommt er manche Ohr— 
feige von dem Meister, der selber keiner ist. Denn kein menschliches Werk ist 
vollkommen. Hat der geneigte Leser noch nie eine Uhr gekauft, und wenn er 10 
meinte, jetzt geht sie am besten, so blieb sie stehen? Oder ein Paar Stiefel, 
einmal sind sie zu eng, ein andermal zu weit, oder in den ersten acht Tagen 
wird ein Absatz rebellisch und will desertieren. 
Was sagt der geneigte Leser dazu? Also ist ein Mensch noch weniger als 
ein Fink? — Keineswegs! — 
Denn erstlich nicht der Vogel baut sein Nest, und nicht das Würmlein baut 
sein Schlafbett, sondern der ewige Schöpfer thut es durch seine unbegreifliche 
Allmacht und Weisheit, und der Vogel muß so zu sagen nur das Schnäblein 
und die Füßlein und so zu sagen den Namen dazu hergeben. Deswegen kann 
auch jeder Vogel nur einerlei Nest bauen, wie jeder Baum nur einerlei Blüten 
und Früchte bringt. Deswegen kann auch der Mensch kein Vogelnest und kein 
Spinngewebe nachmachen. Gottes Werke macht niemand nach. 
Zweitens wie der ewige Schöpfer an seinem Ort jedem genannten Geschöpf 
seine Wohnung bereitet, aber nicht allen auf gleiche Art, dem einen so, dem 
andern anders, wie es nach seinem Zwecke und Bedürfnis recht ist, also hat 25 
er dem Menschen etwas von seinem göttlichen Verstande lassen in die Seele 
träufeln, daß dieser nun nach seiner eigenen Überlegung für mancherlei Zwecke 
bauen und hantieren kann, wie er selbst meint, daß es recht sei. Der Mensch 
kann ein Schilderhäuslein verfertigen, ein Waschhaus, eine Scheuer, ein Wohn— 
haus, einen Palast, eine Kirche, jedes nach seiner Weise, ebenso eine Kirchuhr, 
ebenso eine Orgel mit achtundvierzig Registern, ebenso einen Kalender, was 
auch etwas heißt. Ein Fink kann nicht zweierlei Nester bauen; er kann keinen 
Kalender schreiben, noch viel weniger drucken. 
Drittens hat der ewige Schöpfer dem Menschen die Gnade verliehen, daß 
er in allen seinen Geschäften von unten anfangen und sie durch eignes Nach-⸗ 35 
denken, durch eigenen Fleiß und Übung bis nahe an einige Vollkommenheit 
der göttlichen Werke hinbringen kann, wenn schon nie ganz. Das ist seine Ehre 
und sein Ruhm. 
Item der Fink, die Spinne und das Raupenwürmlein arbeiten an ihren 
Werken als Nachtwandler und wie im Traume. Der Mensch arbeitet im 40 
Wachen, und wenn er die Vollkommenheit der Schöpfungswerke vor Augen hat 
und in seines Herzens Tiefe einen Zug, ihr näher zu kommen, so beweist er 
damit, daß er noch etwas von dem Ebenbilde seines Schöpfers an sich hat. 
Er wird aber nicht stolz darauf, sondern freuet sich nur ihrer Vollendung, wenn 
jedermann gestehen und bekennen muß, und er selber sagen oder denken kann: — 
sie sind recht. 
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