Full text: [Teil 3, [Schülerband]] (Teil 3, [Schülerband])

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brachte man kurze Zeit darauf ihren Mann als Leiche ins Haus; er war 
10 m tief vom Baugerüst gefallen und hatte den Hals gebrochen. 
Was sollte nun aus der armen Familie werden, die plötzlich ihres Er⸗ 
nährers beraubt war! Kein Gesetz gab damals der unglücklichen Witwe mit 
ihren fünf unmündigen Kindern Anspruch auf eine fortlaufende Entschädigung, 
deren sie so sehr bedurfte. Selbst die Kosten der Beerdigung ihres Mannes 
mußte sie tragen, und sie hätte sich deshalb sogleich in Schulden stürzen 
müssen, wenn ihr nicht Herr Freitag als Zeichen der Anerkennung der treuen 
Arbeit, die ihm der Verunglückte manchen Sommer hindurch geleistet hatte, 
das nötige Geld geschenkt hätte. Die Unterstützung, die sie aus der städti— 
schen Armenkasse empfing, war sehr gering, und die Sorge für die Ernährung 
der Familie lastete nun zentnerschwer auf ihren Schultern. Als Waschfrau 
und Aufwartefrau mühte sie sich in harter Arbeit vom frühen Morgen bis 
zum späten Abend, den Unterhalt für sich und die Ihren zu erwerben. Von 
mitleidigen Herrschaften erhielt sie, wenn sie des Abends mit ihrer Arbeit 
fertig war, außer ihrem Lohn manchmal noch Lebensmittel und Kleidungs— 
stücke, und so gelang es ihr, obgleich unter den schwersten Entbehrungen, 
ihre Kinder in Zucht und Ehren aufzuziehen. Franz, der beim Tode des 
Vaters 13 Jahre alt war, half hierbei seiner Mutter nach Kräften. Als 
er konfirmiert war, ging er als Arbeiter in eine der städtischen Fabriken; 
aber er blieb bei seiner Mutter wohnen und übergab ihr jeden Sonnabend 
seinen Wochenlohn. Am Sonntagnachmittag war es ihm jedesmal eine be— 
sondere Freude, im Kreise der Seinen zu weilen, die Erlebnisse der letzten 
Woche mit ihnen durchzusprechen, ihnen etwas vorzulesen oder bei gutem 
Wetter einen gemeinsamen Spaziergang mit ihnen zu machen. 
Nach zwei Jahren gefiel es Franz nicht mehr in der Fabrik. Er sehnte 
sich aus ihren engen, staubigen Räumen hinaus nach einer Beschäftigung in 
der freien Gottesluft. Schnell entschloß er sich, den Beruf seines Vaters zu 
wählen und das Maurerhandwerk zu erlernen. Da er fleißig und tüchtig 
war, kam er rasch vorwärts, und sein Lohn erhöhte sich von Jahr zu Jahr. 
Seiner Mutter brauchte er nichts mehr abzugeben, seit auch ihr jüngstes 
Kind aus der Schule entlassen war und für sich selbst sorgen konnte. Bald 
verdiente er mehr, als er für seinen Unterhalt brauchte. Da er es nicht, 
wie viele seiner Genossen, liebte, die Wirtshäuser zu besuchen, so konnte er 
am Schluß eines jeden Monats eine kleine Summe auf die Sparkasse tragen. 
Nach einer entbehrungsreichen Kindheit schien ihm jetzt die Sonne des Glückes 
zu lächeln. Doch sollte er noch von einem schlimmen Unfall heimgesucht 
werden. Die Unachtsamkeit eines Arbeitsgenossen trug die Schuld, daß ein 
herabfallender Stein seinen linken Arm und seinen linken Fuß schwer ver— 
letzte. Er mußte sofort ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen und blieb drei— 
viertel Jahr arbeitsunfähig. Wie sehr hatte sich aber seit dem Tode seines
	        
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