10. Vom Undank der Kinder.
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10. Vom Undank der Kinder.
Karl Stöber.
Es ist recht und wohl gesagt von alten, weisen Leuten: „Gott, den
Eltern und Lehrern kann man nimmer genugsam vergelten." Leider wird
aber gar oft das Sprichwort wahr, daß „ein Vater leichter kann sechs
Kinder ernähren, denn sechs Kinder einen Vater"./ So sagt man ein Exempel
von einem Vater in Nürnberg. Der hatte sechs Kinder und übergab ihnen
alle seine Güter, Haus, Hof, Acker und alle Bereitschaft und versah sich dessen
zu seinen Kindern, sie würden ihn ernähren./
Da er nun bei seinem ältesten Sohne eine Zeit lang war, wurde der
Sohn sein überdrüssig und sprach: „Vater, mir ist beute Nackt ein Knäblein
geboren, und wo jetzt euer Armstuhl ist, soll seine Wiege stehen; wollet ihr
nicht zu meinem Bruder ziehen, der eine größere Stube hat?"
Da er eine Zeit lang bei dem andern Sohne gewesen war, wurde der
auch sein müde und sprach: „Vater, er hat gerne eine warme Stube, und yCtf, /
mir thut der Kopf davon weh; will er nicht zu meinem Bruder gehen, der/- “
ein Bäcker ist?" vh.
Der Vater ging, und da er nun eine Zeit lang bei seinem dritten Sohne
gewesen war, wurde er auch diesem zur Last, daß er sprach: „Vater, bei
mir geht es aus und ein, wie in einem Taubenschlage, und du kannst dein .
Mittagsschläfchen nicht machen; willst du nicht zu meiner Schwester, der
Käthe? Die wohnt an der Stadtmauer."
Der Alte merkte, wie viel es geschlagen hatte, und sprach bei sich selbst: j
„Wohlan, das will ich thun. Ich will mich aufmachen und es bei meinen
Töchtern versuchen. Die Weiber haben ein weicheres Herz."
Da er aber eine Zeit lang bei seiner Tochter gewesen war, wurde auch
sie sein überdrüssig und meinte, es sei ihr immer Höllenangst, wenn der
Vater zur Kirche oder sonst wohin gehe und die hohe Treppe hinunter müsse.
Bei der Schwester Elisabeth brauche er keine Treppe zu steigen, die wohne
zur ebenen Erde.
Damit er in Frieden wegkam, gab ihr der Alte zum Scheine recht und
zog zu seiner andern Tochter. Und da er eine kurze Zeit bei ihr gewesen
war, wurde auch sie sein müde und ließ ihm durch einen Dritten zu Ohren
kommen, ihr Quartier an der Pegnitz wäre zu feucht für einen Mann, der
mit Gicht geplagt sei; dagegen ihre Schwester, die Totengräberin bei St. Jo¬
hannis, hätte eine überaus trockene Wohnung. Der Alte glaubte selbst, sie könne
recht haben, und begab sich vor das Thor zu seiner jüngsten Tochter Lene.
Und als er zwei Tage bei ihr gewesen war, sagte ihr Söhnlein zu ihm:
„Großvater, die Mutter sprach gestern zur Base Elisabeth, für dich gebe es
kein besseres Quartier, als in einer Kammer, wie sie der Vater grabe." Über
diese Rede brach dem guten Alten das Herz, daß er in seinen Armstuhl
zurücksank und starb.
St. Johannis nahm ihn auf und ist barmherziger gegen ihn als seine
Kinder; denn er läßt ihn in seiner Kammer immer ungehindert schlafen seit
dieser Zeit. Darum sagt man im Sprichworte, daß ein Vater leichter kann
sechs Kinder ernähren, denn sechs Kinder einen Vater, und gibt den Alten
den Rat: „Thue dich nicht aus, ehe du dich schlafen legst!"
Lesebuch sür die Oberklassen oberbaverischer Volksschulen. 0 2