Full text: [Teil 6 = Oberstufe 2, [Schülerband]] (Teil 6 = Oberstufe 2, [Schülerband])

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Schon war's ziemlich spät am Nachmittage. Seine Hoffnun 
war so nahe am Untergehen wie die Sonne; denn schon kehrten 
die Lustwandler zurück. Da legte sich ein recht tiefes Leid auf 
das wellerharte, vernarbte Gesicht. Er ahnte nicht, daß nicht 
eit von ihm ein stattlich gekleideter Herr stand, der ihm lange 
zuhörte und ihn mit dem Ausdrucke tief empfundenen Mitleids 
hellachtele. —Als endlich alles fruchtlos blieb und die müde 
Hand den Bogen nicht mehr führen konnte, auch sein Bein ihn 
kaum mehr trug, er sich auf einen Stein und stützte die 
Slirn in die hohle Hand, und die Erde saugte einige heimliche 
Thranen ein, und die sagt's nicht wieder. 
Der Herr aber, der dort am Stamme der alten Linde lehnte, 
hatte gesehen, wie die verstümmelte Hand die Thränen abwischte, 
damit das Auge der Welt die Spuren nicht sehe. Es war aber, 
ls wenn die Thränen wie siedend heiße Tropfen dem Herrn auf 
das Herz gefallen wären, so rasch trat er herzu, reichte dem Alten 
ein Golpstück und sagte; „Leiht mir eure Geige ein Stündchen!“ 
Der Aue sah voll Dankes den Herrn an, der mit der deutschen 
Sprache so holperig umging wie er mit der Geige. Was er aber 
wollle, verständ der Invalide doch und reichte ihm seine Geige. 
Sie war nun so schlecht nicht; nur der gewöhnliche Geiger kratzte 
so übel. Der Herr stimmte sie glockenrein, stellte sich ganz nahe 
zu dem Invaliden und sagte: „Kollege, nun nehmt ihr das 
Geld, und ich spiele! — Der fing denn nun an zu spielen, daß 
der Alle seine Geige neugierig betrachtete und meinte, sie sei es 
gar nicht mehr; denn der Klang ging wunderbar in die Seele, und 
die Tole rollten wie Perlen dahin. Manchmal war's, als jubi— 
lierten Engelstimmen in der Geige, und dann wieder, als klagten 
Tone schweren Leides aus ihr heraus, die das Herz so bewegten, 
daß die Augen feucht wurden. 
Jetzt büeben die Leute stehen, sahen den stattlichen Herrn an 
und horchten auf die wundervollen Töne; jedermann sah, daß er 
für den Armen geigte; man fragte nach seinem Namen, aber 
emand kanne ihn. Immer größer wurde der Kreis der Zu— 
hörern Selbst die Kulschen der Vornehmen hielten an. Und 
bas die Hauptsache war, jedermann sah ein, was der kunstreiche 
Fremde beabsichtigte, und gab reichlich. Da fiel nicht bloß Kupfer, 
sondern auch Silber und Gold in den Hut. Der Pudel knurrte. 
War es Vergnügen oder Ärger? Er konnte den Hut nicht mehr 
halten, so schwer war er geworden. „Macht ihn leer, Alter!“ 
efen die Leute dem Invaliden zu, „er wird noch einmal voll!“ 
Der Alte thal's, und richtig, er mußte ihn noch einmal leeren 
in den Sack in den er die Violine zu stecken pflegte. Der 
Fremde stand da mit leuchtenden Augen und spielte, daß ein 
Bravo über das andere schallte. Alle Welt war entzückt. Endlich
	        
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