Full text: Mit 46 Abbildungen (Teil 2 = (4. und 5. Schuljahr), [Schülerband])

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gesellt hätten, und daß infolgedessen eine allgemeine Abnahme der Kräfte 
stattgefunden habe. Niemand konnte sich seitdem über die unmittelbar 
vorhandene Gefahr täuschen. Als dann am Donnerstag, den 8. März 
morgens der Reichs- und Staatsanzeiger die Kunde brachte: „Seine 
Majestät der Kaiser und König haben eine sehr unruhige Nacht gehabt; 
die Kräfte haben noch mehr abgenommen“, da mußte sich jedermann auf 
das Äußerste gefaßt machen. Der Platz vor dem Kaiserlichen Palais bot 
den ganzen Tag über ein Bild unendlichen Wehs, und die beunruhigendsten 
Gerüchte durchschwirrten die Luft. „Lebt der Kaiser noch? Ist das 
Gefürchtete eingetroffen?“ so ging es durch die Reihen der trotz des 
strömenden Regens lawinenartig anwachsenden Menge, die auf dem Opern— 
platz und in der Straße Unter den Linden hin und her wogte, und deren 
Stimmung immer schwerer, immer düsterer wurde. 
2. Inzwischen war die kaiserliche Familie schon seit dem Morgen um 
das Sterbelager des teuern Familienoberhauptes oder doch in seiner Nähe 
vereinigt gewesen. Sowohl mit dem Prinzen Wilhelm als mit dem Fürsten 
Bismarck hatte der Kaiser ernste Unterredungen. 
Schon im Laufe des Nachmittags war auf Veranlassung des Prinzen 
Wilhelm der Kaiser in schonender Weise gefragt worden, ob nicht der 
Oberhofprediger Kögel gerufen werden sollte. Er erklärte sich hiermit 
einverstanden. Gegen fünf Uhr trat D. Kögel an das Krankenbett des 
Kaisers, um mit ihm zu beten. Bei dem Spruche „Herr, nun lässest du 
deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen 
haben deinen Heiland gesehen —“ fragte die Großherzogin von Baden 
ihren Vater, ob er verstanden habe. Er bejahte es, indem er die Worte 
vernehmlich wiederholte: „Meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“ 
Später sprach er wieder mit dem Prinzen Wilhelm von der Armee 
und Preußens gesamtem Volke. Die Großherzogin von Baden bat den 
Vater, sich nicht zu sehr anzustrengen, da das andauernde laute Sprechen 
ihn müde machen müsse. Der Kaiser erwiderte hierauf: „Ich habe jetzt 
keine Zeit, müde zu sein.“ Es waren dies die letzten zusammenhängenden 
Worte, die von ihm zu vernehmen waren. Im Verlauf des Abends 
vermochten die Kräfte sich nicht zu heben. In abgebrochenen Worten 
sprach der Kaiser vielfach von den Truppen und von Erinnerungen der 
Feldzüge; er nannte einzelne ihm bekannte Namen. Gegen vier Uhr morgens 
wurde der Puls immer schwächer, der Atem schwerer; das Bewußtsein 
schwand. Auf Veranlassung der Ärzte wurden die Mitglieder der kaiser— 
lichen Familie zusammenberufen. Ab und zu schienen von den Lippen 
des Kaisers unbestimmte Laute zu kommen. Die Großherzogin richtete 
noch kurze Fragen an den Kaiser. So fragte sie: „Weißt du, daß Mama
	        
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