Full text: [Theil 2 = Mittelstufe, [Schülerband]] (Theil 2 = Mittelstufe, [Schülerband])

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261. Des fremden Kindes heiliger Christ. 
Rückert. 
1. Es läuft ein fremdes Kind 
am Abend vor Weihnachten 
durch eine Stadt geschwind, 
die Lichter zu betrachten, 
die angezündet sind. 
2. Es steht vor jedem Haus 
und sieht die hellen Räume; 
die drinnen schaun heraus, 
die lampenvollen Bäume; 
weh wird's ihm überaus 
3. Das Kindlein weint und spricht: 
„Ein jedes Kind hat heute 
ein Bäumchen und ein Licht, 
und hat dran seine Freude, 
nur bloß ich armes nicht! 
4. An der Geschwister Hand, 
als ich daheim gesessen, 
hat es mir auch gebrannt; 
doch hier bin ich vergessen, 
in diesem fremden Land. 
5. Läßt mich denn niemand ein 
und gönnt mir auch ein Fleckchen? 
In all' den Häuserreihn 
ist denn für mich kein Eckchen, 
und wär' es noch so klein? 
6. Läßt mich denn niemand ein? 
Ich will ja selbst nichts haben; 
ich will ja nur am Schein 
der fremden Weihnachtsgaben 
mich laben ganz allein.“ 
7. Es klopft an Thür und Thor, 
an Fenster und an Laden; 
doch niemand tritt hervor, 
das Kindlein einzuladen; 
sie haben drin kein Ohr 
8. Ein jeder Vater lenkt 
den Sinn auf seine Kinder; 
die Mutter, sie beschentkt, 
denkt sonst nichts mehr noch minder; 
ans Kindlein niemand denkt. 
9. „O lieber, heil'ger Christ! 
nicht Mutter und nicht Vater 
hab' ich, wenn du's nicht bist; 
o, sei du mein Berather, 
weil man mich hier vergißt!“ 
10. Das Kindlein reibt die Hand, 
sie ist von Frost erstarret; 
es kriecht in sein Gewand 
und in dem Gäßlein harret, 
den Blick hinaus gewandt. 
11. Da kommt mit einem Licht 
durchs Gäßlein hergewallet, 
im weißen Kleide schlicht, 
ein ander Kind; — wie schallet 
es lieblich, da es spricht: 
12. „Ich bin der heil'ge Christ, 
war auch ein Kind vordessen, 
wie du ein Kindlein bist; 
ich will dich nicht vergessen, 
wenn alles dich vergißt. 
13. Ich bin mit meinem Wort 
bei allen gleichermaßen; 
ich biete meinen Hort 
so gut hier auf den Straßen, 
wie in den Zimmern dort. 
14. Ich will dir deinen Baum, 
fremd Kind, hier lassen schimmern 
auf diesem off'nen Raum, 
so schön, daß die in Zimmern 
so schön sein sollen kaum!“ 
15. Da deutet mit der Hand 
Christkindlein auf zum Himmel, 
und droben leuchtend stand 
ein Baum voll Sterngewimmel 
vielästig ausgespannt. 
16. So fern und doch so nah', 
wie funkelten die Kerzen! 
Wie ward dem Kindlein da, 
dem fremden, still zu Herzen, 
das seinen Christbaum sah! 
17. Es ward ihm wie ein Traum; 
da langten hergebogen 
Englein herab vom Baum 
zum Kindlein, das sie zogen 
hinauf zum lichten Raum. 
18. Das fremde Kindlein ist 
zur Heimat nun gekehret, 
bei seinem heil'gen Christ; 
und was hier wird bescheret, 
es dorten leicht vergißt. 
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