Full text: [Stufe 2, [Schülerband]] (Stufe 2, [Schülerband])

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Tage plagten und ihm nachts die Ruhe wegnahmen. „Sterben werde 
ich nicht,“ sprach er zu sich selbst, „denn der Tod sendet erst seine Boten; 
ich wollte nur, die bösen Tage der Krankheit wären erst vorüber!“ So— 
bald er sich gesund fühlte, fing er wieder an, in Freuden zu leben. 
Da klopfte ihm eines Tages jemand auf die Schulter; er blickte sich um, 
und der Tod stand hinter ihm und sprach: „Folge mir, die Stunde 
deines Abschiedes von der Welt ist gekommen“ „Wie,“ antwortete 
der Mensch, „willst du dein Wort brechen? Hast du mir nicht ver— 
sprochen, daß du mir, bevor du selbst kämeft, deine Boten senden 
wolltest? Ich habe keinen gesehen.“ „Schweig!“ erwiderte der Tod; 
„habe ich dir nicht einen Boten über den anderen geschickt? Kam nicht 
das Fieber, stieß dich an, rüttelte dich und warf dich nieder? Hat der 
Schwindel dir nicht den Kopf betäubt? Zwickte dich nicht die Gicht 
in allen Gliedern? Brauste dir's nicht in den Ohren? Nagte nicht der 
Zahnschmerz in deinen Backen. Ward dir's nicht dunkel vor den Augen? 
Über das alles, hat nicht mein leiblicher Bruder, der Schlaf, dich 
jeden Abend an mich erinnert? Lagst du nicht in der Nacht, als wärest 
du schon gestorben?“ Der Mensch wußte nichts zu erwidern, ergab 
sich in sein Geschick und ging mit dem Tode fort. Grimm. 
63. Der alte Geiger. 
1. Ein armer Geiger wandert durchs Land, 
des Hündleins Schnur in zitternder Hand. 
Der Körper ist alt und schwach und blind; 
es kennt den Armen ein jedes Kind. 
2. Und wenn er vor den Thüren geigt, 
wird alles traurig und horcht und schweigt; 
und wenn er von seinen Leiden singt, 
das Lied in die tiefste Seele dringt. 
3. „Ich wandle in Nacht schon achtzig Jahr; 
mein Leben ein Leben voll Thränen war, 
ein Leben voll Angst und Hunger und Not; 
o läg' ich im Grabe, o wär' ich tot! 
4. O wär' ich bei dir, Herr Jesu Christ, 
wo keine Nacht und keine Trübsal ist! 
O läg' ich im Grabe, o wär' ich tot! 
Wer reicht dem Geiger ein Stücklein Brot?“ 
5. So singt er, mein Kind, und wirst du ihn sehn, 
darfst du nicht spottend vorübergehn. 
Leg eine Gabe, freundlich und gut, 
dem blinden Geiger in seinen Hut. Staub. 
Deutsches Lesebuch. U. Stufe.
	        
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