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siefen und das Brot mit Gewalt nahmen. Aber kein Erbarmen kam in den
Bischof, sondern er sprach: „Lasset alle Arme und Dürftige sammeln in einer
Scheune vor der Stadt, ich will sie speisen.“ Und wie sie in die Scheune
gegangen waren, schloß er die Thüre zu, steckte die Scheune mit Feuer an und
berbrannte sie samt den armen Leuten. Als nun die Menschen unter den Flammen
wimmerten und jammerten, rief Bischof Hatto: „Hört, hört, wie die Mäuse
pfeifen!“ Allein Gott, der Herr, plagte ihn bald, daß die Mäuse Tag und Nacht
über ihn liefen und an ihm fraßen und er sich mit aller seiner Gewalt nicht wider
sie zu bewahren vermochte. Da wußte er endlich keinen andern Rat, als daß er
10 einen Turm bei Bingen mitten in den Rhein bauen ließ, der noch heutigen Tages
zu sehen ist. Darin meinte er sich zu fristen, aber die Mäuse schwammen durch
den Strom heran, erklommen den Turm und fraßen den Bischof lebendig auf.
233. Sankt Martinus.
Galk)
15 Als Kaiser Theodosius
regierte mit Arkadius,
einem Reiter aus Pannonia,
mit Namen Martin, dies geschah.
Er kam in Sturm und Schnee einst mitten
20 zu einem Ort hinein geritten;
da fleht alsbald ein armer Mann
um eine kleine Gab' ihn an.
Der Mann war elend, nackt und bloß,
der Wind ging auf die Haut ihm los.
Herr Martin hätt' ihm für sein Leben
gern Koller, Rock und Wams gegeben;
allein ihr wißt wohl, ein Soldat
sehr wenig zu verschenken hat.
Doch hielt er an auf hohem Roß,
30 worauf der Regen niederfloß,
und sprach: „Der Mann ist nackt und
bloß;
es muß ja grad' auch Geld nicht sein,
ich will ihm dennoch was verleihn!“
Sein Schwert drauf mit der Faust gefaßt,
haut er von seinem Mantel fast
des einen Zipfels Hälft' herab,
die er dem armen Manne gab.
Der Arme nimmt das Stück sogleich
40 und wünscht dafür das Himmelreich
dem guten, frommen Reitersmann,
der sich nicht lange drauf besann.
Wie der gesagt sein Gratias,
so reitet dieser auch fürbaß
zu einer armen Witwe Thür
und legt daselbst sich ins Quartier,
nimmt Speis und Trank ein wenig ein,
es wird nicht viel gewesen sein.
Nachdem er also trunken, gessen
und das Gebet auch nicht vergessen,
legt er sich nieder auf die Streu.
Ob's eins gewesen oder zwei,
das hat die Chronik nicht gemeld't;
drum laß ich's auch dahingestellt.
Alsbald begiebt sich's in der Nacht,
daß er von einem Glanz erwacht,
der zwingt das Aug' ihn aufzuschließen.
Da steht ein Mann zu seinen Füßen,
sein Haupt trägt eine Dornenkron';
er ist's, er ist's, des Menschen Sohn!
Mit tausend Engeln, die ihm dienen,
ist plötzlich unser Herr erschienen
in aller seiner Herrlichkeit,
und mit dem Mantel, welchen heut
der Martin aus Pannonia,
der dessen gar sich nicht versah,
geschenkt dem armen Bettelmann,
ist unser Heiland angethan.
Und so der Herr zu Petrus spricht:
„Siehst du den neuen Mantel nicht,
den ich hier auf den Schultern trage?“
Auf des Apostels weitre Frage,
wer ihm den Mantel denn geschenkt,
das Aug' auf Martin hingesenkt,
mit einem sanften Himmelston
fährt also fort des Menschen Sohn:
„Der Martin hier, der ist es eben,
der diesen Mantel mir gegeben.