Full text: [Teil 1 = Mittelstufe, [Schülerband]] (Teil 1 = Mittelstufe, [Schülerband])

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da legte sich die Alte endlich zur Ruhe. Am Morgen, als die Feinde abgezogen 
sind, macht der Enkel vorsichtig die Thür auf, schaut hinaus, schaut und reibt sich 
die Augen, denn er kann die Straße nicht sehen. So lang das Haus war, lag 
ein Berg da von Schnee, den in der Nacht der Wind zusammengefegt hatte. 
Das war die Mauer, die der Herr ums Haus gebaut. Er hatte das Gestein 
dazu vom Himmel schneien und vom Nordwind hatte er die Mauer aufbauen 
lassen, still und schnell noch vor Mitternacht, — es wäre sonst zu spät gewesen, 
— und der Feind war dran vorbei gezogen. 
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117. Der Dachdecker. 
Caspari) 
Ein Dachdecker arbeitete hoch oben auf der Spitze eines Kirchturms. Da 
riß das Seil, mit dem er sich am Knopf befestigt hatte, und er fiel vom Turm 
herab auf das Kirchendach. Hier wollte er sich halten, aber er rollte vom Dach 
hinab in einen Lindenbaum; hier wollte er sich wieder halten, aber die Äste brachen, 
und so fiel er von Ast zu Ast und endlich herab auf das Pflaster. Die Leute hatten 15 
mit einem Geschrei des Entsetzens ihn fallen sehen, rannten herbei und meinten 
ihn zerschmettert zu finden, aber der Dachdecker lebte und zwar ganz unversehrt 
und rieb sich die Augen, — denn er wußte gar nicht, wie ihm geschehen war. 
Mittlerweile mehrte sich der Menschenhaufe um ihn, und jeder ließ sich die Ge— 
schichte erzählen, und endlich rief ein Wirt, der auch hinzugetreten war: „Das 20 
ist doch zu wunderbar, der Tag muß gefeiert werden, kommt mit in mein Haus, 
der Mann muß sich's heut einmal wohl sein lassen!“ Gesagt, gethan! Zwei nahmen 
den Dachdecker in die Mitte, der andere Haufe folgte, und im Triumph ging's ins 
Wirtshaus, wo gezecht, gelärmt und Vivat gerufen wurde bis in die späte Nacht. 
Der Dachdecker wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, auf fremde Kosten 26 
sich gütlich zu thun, aß und trank und hörte dabei nicht auf, immer wieder von 
neuem die Geschichte seines wunderbaren Sturzes zu erzählen. Des lieben Gottes, 
der seinen Engeln über ihm Befehl gethan, gedachte er dabei mit keiner Silbe, 
vielmehr erzählte er den Hergang also, als sei das nicht Gottes Beschirmung, 
sondern eine ganz besondere Geschicklichkeit und Besonnenheit von ihm selber ge⸗ 
wesen, zuerst auf das Dach, dann auf den Lindenbaum und dann ganz allmählich 
von Ast zu Ast bis herunter auf das Pflaster zu fallen, und zuletzt vermaß er sich 
sogar, wenn sich etwas Erkleckliches damit verdienen ließe, wolle er eigens das 
ganze Kunststück noch einmal machen. Von dem vielen Reden und Trinken ward 
er endlich müde, legte sich auf die Ofenbank und schlief ein. Als die letzten Gäste 85 
eben das Wirtshaus verlassen wollten, bemerkten sie, daß er allerlei ängstliche Ge— 
bärden mache und ein banges Stöhnen ausstieße. Er fuhr mit den Händen in 
der Lust herum, als ob er sich an etwas halten wollte, dann schrak er wieder hef— 
tig zusammen. Es war offenbar, daß er den Fall noch einmal durchträumte, 
den er am Vormittag gethan hatte, und die Gäste fanden eine große Belustigung 
darin, seine seltsamen Bewegungen anzuschauen, besonders als sie bemerkten, daß 
er jeden Augenblick von der Bank hinunterfallen müsse. Endlich machte er wieder 
eine Bewegung und fiel wirklich unter schallendem Gelächter der Anwesenden von 
der Bank herab in die Stube. Sie erwarteten, ihn nun aufwachen zu sehen, aber 
er blieb liegen, ohne ein Glied zu rühren, und als sie herzutraten und ihn an- 45 
faßten, war er — tot! — Er hatte vergessen, dem die Ehre zu geben, der ihn
	        
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