75
da legte sich die Alte endlich zur Ruhe. Am Morgen, als die Feinde abgezogen
sind, macht der Enkel vorsichtig die Thür auf, schaut hinaus, schaut und reibt sich
die Augen, denn er kann die Straße nicht sehen. So lang das Haus war, lag
ein Berg da von Schnee, den in der Nacht der Wind zusammengefegt hatte.
Das war die Mauer, die der Herr ums Haus gebaut. Er hatte das Gestein
dazu vom Himmel schneien und vom Nordwind hatte er die Mauer aufbauen
lassen, still und schnell noch vor Mitternacht, — es wäre sonst zu spät gewesen,
— und der Feind war dran vorbei gezogen.
5
117. Der Dachdecker.
Caspari)
Ein Dachdecker arbeitete hoch oben auf der Spitze eines Kirchturms. Da
riß das Seil, mit dem er sich am Knopf befestigt hatte, und er fiel vom Turm
herab auf das Kirchendach. Hier wollte er sich halten, aber er rollte vom Dach
hinab in einen Lindenbaum; hier wollte er sich wieder halten, aber die Äste brachen,
und so fiel er von Ast zu Ast und endlich herab auf das Pflaster. Die Leute hatten 15
mit einem Geschrei des Entsetzens ihn fallen sehen, rannten herbei und meinten
ihn zerschmettert zu finden, aber der Dachdecker lebte und zwar ganz unversehrt
und rieb sich die Augen, — denn er wußte gar nicht, wie ihm geschehen war.
Mittlerweile mehrte sich der Menschenhaufe um ihn, und jeder ließ sich die Ge—
schichte erzählen, und endlich rief ein Wirt, der auch hinzugetreten war: „Das 20
ist doch zu wunderbar, der Tag muß gefeiert werden, kommt mit in mein Haus,
der Mann muß sich's heut einmal wohl sein lassen!“ Gesagt, gethan! Zwei nahmen
den Dachdecker in die Mitte, der andere Haufe folgte, und im Triumph ging's ins
Wirtshaus, wo gezecht, gelärmt und Vivat gerufen wurde bis in die späte Nacht.
Der Dachdecker wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, auf fremde Kosten 26
sich gütlich zu thun, aß und trank und hörte dabei nicht auf, immer wieder von
neuem die Geschichte seines wunderbaren Sturzes zu erzählen. Des lieben Gottes,
der seinen Engeln über ihm Befehl gethan, gedachte er dabei mit keiner Silbe,
vielmehr erzählte er den Hergang also, als sei das nicht Gottes Beschirmung,
sondern eine ganz besondere Geschicklichkeit und Besonnenheit von ihm selber ge⸗
wesen, zuerst auf das Dach, dann auf den Lindenbaum und dann ganz allmählich
von Ast zu Ast bis herunter auf das Pflaster zu fallen, und zuletzt vermaß er sich
sogar, wenn sich etwas Erkleckliches damit verdienen ließe, wolle er eigens das
ganze Kunststück noch einmal machen. Von dem vielen Reden und Trinken ward
er endlich müde, legte sich auf die Ofenbank und schlief ein. Als die letzten Gäste 85
eben das Wirtshaus verlassen wollten, bemerkten sie, daß er allerlei ängstliche Ge—
bärden mache und ein banges Stöhnen ausstieße. Er fuhr mit den Händen in
der Lust herum, als ob er sich an etwas halten wollte, dann schrak er wieder hef—
tig zusammen. Es war offenbar, daß er den Fall noch einmal durchträumte,
den er am Vormittag gethan hatte, und die Gäste fanden eine große Belustigung
darin, seine seltsamen Bewegungen anzuschauen, besonders als sie bemerkten, daß
er jeden Augenblick von der Bank hinunterfallen müsse. Endlich machte er wieder
eine Bewegung und fiel wirklich unter schallendem Gelächter der Anwesenden von
der Bank herab in die Stube. Sie erwarteten, ihn nun aufwachen zu sehen, aber
er blieb liegen, ohne ein Glied zu rühren, und als sie herzutraten und ihn an- 45
faßten, war er — tot! — Er hatte vergessen, dem die Ehre zu geben, der ihn