Full text: Lesebuch zur Geschichte der deutschen Literatur alter und neuer Zeit

Prosa⸗-Schriftsteller — 2Geschichtschreiber: L. Häusser. 461 
plötzlich versehrt und angefressen. Der Augenblick des Handelns überfiel uns 
unversehen; davon übernahmen wir uns in der leidenschaftlichsten Hitze und 
verfehlten das Ziel, das wir nicht weise ermessen hatten. Und dabei trat dann 
plötzlich die unerfreuliche Veränderung des Nationalcharakters zu Tage. Was 
wir zur Zeit jener ersten großen Erhebung zu äußerer und innerer Freiheit 
noch als bieder, treu, offen, wahrhaft und gutartig gekannt hatten, das ging 
in dem Zeitpunkt eines späteren Aufschwungs auf verborgenen Wegen, treulos, 
eidbrüchig, aller Ehre baar und aller Güter verlustig. Da die Helden der 
Worte endlich zum Wirken und Handeln berufen wurden, zu dem sie sich so 
lange vermessen hatten, da brach die Vergiftung des Innern in ekeln Eiter 
aus und Grausamkeit, Rachsucht, Blutgier und Meuchelmord befleckten den 
deutschen Namen, wo Niemand mitten im Flore der Geistesbildung und der 
häuslichen Sitte diese grelle Verwilderung in uns geahnt hatte. 
8. Ludwig Häausser. 
G. 140. Lhib. 1033) 
Scharnhorst. 
(Aus der deutschen Geschichte.) 
Wenige Tage nach dem Frieden von Tilsit erfolgte Scharnhorst's Er— 
nennung zum Generalmajor und seine Berufung in die reorganisirende Com— 
mission. Eine glücklichere Wahl ließ sich nicht treffen. Hier vereinigte sich, 
wie bei Stein, das reichste theoretische Wissen mit praktischer Tüchtigkeit und 
zäher, ausdauernder Willenskraft; Scharnhorst war nichts durch äußere Ver— 
hältnisse und die Gunst des Zufalls, Alles durch sich selber; eine jener klaren, 
festen, in sich fertigen Naturen, an denen nichts blendet und besticht, deren 
Gediegenheit aber überzeugt und bezwingt. Die ihm am nächsten standen, 
rühmen seinen ruhigen, scharfen und durchdringenden, aber wenig beweglichen, 
nie hin und her hüpfenden Verstand, seine schmucklose Weise, der die Gabe 
des raschen, beredten Wortes abging, seine Unabhängigkeit von Autoritäten, 
sein nuͤchternes, von allem Phantastischen freies Erfassen der Dinge und Men— 
schen, wie sie in Wirklichkeit waren. Es war ein Geist, der, wie Clausewitz 
trefflich sagt, edle Früchte still zeitigen, aber nicht wie andre mit Blüthen 
prangen konnte. Boyen versicherte, er habe unter den vielen, zum Theil sehr 
hervorragenden Männern, denen er näher gekommen, Manche gefunden, die 
in einzelnen Anlagen oder Zweigen des Wissens überlegener waren oder ihre 
geistigen Mittel besser geltend zu machen wußten, aber es sei ihm Keiner be⸗ 
gegnet, dessen Worte und Handlungen so wie bei Scharnhorst immer nur die 
Ergebnisse eines vorhergegangenen ruhigen Denkens waren, Keiner, der sich 
und seine Aeußerungen so zu beherrschen verstand, Keiner, der einer so großen 
persönlichen Resignation fähig gewesen wäre, und endlich Keiner, der bei an— 
scheinend weichen, selbst vernachlässigten Formen einen so unerschütterlich festen 
Willen in seiner Brust trug. 
Es ist ein seltenes Glück, wenn eine junge Institution, wie das preu— 
ßische Heer, das jetzt neu gebildet werden sollte, von einer solchen Persönlich— 
keit ihr individuelles Gepräge empfängt. Gerade im Gegensah zu der alten 
Weise, deren Hochmuth und Leichtfertigkeit so bitter gezüchtigt war, erscheint 
es wie eine doppelt günstige Fügung, daß eine sittliche Personlichkeit von so 
lauterer, schlichter Art der Schöpfer der neuen Ordnung ward. Denn mit 
diesem scharfen Erkennen und festen Wollen war das edelfle und zartfühlendste
	        
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