Full text: Lesebuch zur Geschichte der deutschen Literatur alter und neuer Zeit

Pkosa Schriftsteller Jakob Grimm. — 
2. Dornröschen. 
Aus den gesammelten Vollsmährchen.) 
Vor Zeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag: 
„ach wenn wir doch ein Kind hätten!“ und kriegten immer keins. Da trug 
sich zu, als die Königin einmal im Bade saß, daß ein Frosch aus dem Was— 
ser an's Land kroch, und zu ihr sprach, „dein Wunsch soll erfüllt werden, du 
wirst eine Tochter zur Welt bringen.“ Was der Frosch vorausgesagt hatte, 
das geschah, und die Königin gebar ein Mädchen, das war so schön, daß der 
König vor Freude sich nicht zu lassen wußte, und ein großes Fest anstellte. 
Er lud nicht blos seine Verwandte, Freunde und Bekannte, sondern auch die 
weisen Frauen dazu ein, damit sie dem Kind hold und gewogen würden. Es 
waren ihrer dreizehn in seinem Reiche, weil er aber nur zwölf goldene Teller 
hatte; von welchen sie essen sollten, konnte er eine nicht einladen. Die geladen 
waren, kamen zu rechter Zeit, und als das Fest vorbei war, beschenkten sie 
das Kind mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere mit Schön— 
heit die dritte mit Reichthum, und so mit allem, was auf der Welt nur zu 
wuünschen ist. Als elfe ihre Sprüche eben gethan hatten, trat plötzlich die 
dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür rächen, daß sie nicht eingeladen war, 
und ohne jemand zu grüßen oder nur anzusehen, rief sie mit lauter Stimme 
„die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahre an einer Spindel stechen 
und todt hinfallen.“ Nach diesen Worten kehrte sie sich um und verließ den 
Saal, und alle standen erschrocken, da trat die zwölfte hervor, die noch einen 
Wunsch übrig hatte, und weil sie den bösen Spruch nicht aufheben, sondern 
nur ihn mildern konnte, so sagte sie: „es soll aber kein Tod sein, sondern ein 
hundertjähriger tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt.“ 
Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern bewahren wollte, 
ließ den Befehl ausgehen, daß die Spindeln im ganzen Königreiche sollten 
abgeschafft werden. An dem Mädchen aber wurden die Gaben der weisen Frauen 
sämmtlich erfüllt, denn es war so schön, sittsam, freundlich und verständig, 
daß es jedermann, der es ansah, lieb haben mußte. Es geschah, daß an dem 
Tage, wo es gerade fünfzehn Jahr alt war, der König und die Königin 
nicht zu Haus waren und das Mädchen ganz allein im Schloß zurückblieb. 
Da ging es aller Orten herum, besah Stuben und Kammern, wie es Lust 
hatte, und kam endlich auch an einen alten Thurm. Es stieg die Wendel— 
kreppe hinauf, und gelangte zu einer kleinen Thüre. In dem Schloß steckte 
ein verrosteter Schlüssel, und als es umdrehte, sprang die Thür auf, und saß 
da in einem kleinen Stübchen eine alle Frau und spann emsig ihren FNachs. 
Ei du altes Mütterchen,“ sprach die Königstochter, „was machst du da?“ 
Ich spinne,“ sagte die Alte und nickte mit dem Kopf. „Wie das Ding so 
lustig herumspringt!“ sprach das Mädchen, nahm die Spindel und wollte auch 
spinnen. Kaum hatte sie aber die Spindel angerührt, so ging der Zauber— 
spruch in Erfüllung, und sie stach sich damit. 
In dem Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie auch nieder 
in einen tiefen Schlaf. Und dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze 
Schloß: der König und die Königin, die eben heim gekommen waren, fingen 
an einzuschlafen, und der ganze Hofstaat mit ihnen. Da schliefen auch die 
Pferde im Stall ein, die Hunde im Hofe, die Tauben auf dem Dache, die 
Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem Heerde flackerte, ward still 
und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln, und der Koch, der den 
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