Full text: Vom Westfälischen Frieden bis zum Ausbruch des Weltkrieges (Teil 2)

§ 129. Einheits- und Freiheitsbestrebungen' im deutschen Volke. 153 
IX. Um Wiener Kongreß bis zur Medernnstilhlung des 
Deutschen Kaisertums. 1815—1871. 
A. Die Zeit des Deutschen Dundes 1815—1866. 
I. Der Z5und öis zu den Stürmen des Jahres 1848. 
§ 129. Einheits- und Freiheitsbestrebungen im deutschen 
Volke nach den Besreinngskriegen. 
1. Dem Wiener Kongreß folgte eine lange Friedenszeit. Sie naä> 
war wohl mit materiellen und geistigen Gütern gesegnet, ließ es aber 
infolge des Mangels an nationaler Einheit, an Kraft und Reg- 
samkeit doch nicht zu einer gesunden und gedeihlichen Entwicklung 
des deutschen Volkes kommen. In den ersten Jahren nach den Be- 
freiungskriegen empfand die Mehrheit des Volkes ein lebhaftes Be- 
dürfnisnachRuhe. Die vorausgegangenen, fast endlosen Kämpfe 
hatten den Wohlstand vieler erschüttert und namentlich den erwerben- 
den Klassen das Fortkommen außerordentlich erschwert. Ein empfind- 
licher Druck lastete auf den wirtschaftlichen Kräften des Landes. Die 
Industrie war, da nach dem Aufhören der Kontinentalsperre eng- 
tische Fabrikate den deutschen Markt überschwemmten, in ihrer Ent- 
faltnng gehemmt und die Landwirtschaft hatte als Nachwirkung 
der Mißernten von 1816 und 1817 schwere Zeiten durchzumachen. 
Unter solchen Umständen nahm das Ringen nach den notwendigsten 
Lebensbedürfnissen die Kraft, das Sorgen und Denken der breiten 
Schichten der Bevölkerung in so hohem Grade in Anspruch, daß es 
denselben unmöglich war, sich um allgemeine politische Angelegenheiten, 
um die Mängel und Gebrechen des Deutschen Bundes zu kümmern. 
2. Trotz dieser mißlichen Lage aber wirkte der durch die Be- 
freiuugskriege angefachte neue Geist wenigstens in dem gebildeten Teil vewegung. 
der Nation in ungeschwächter, ja in stets wachsender Macht fort. Er 
offenbarte sich in dem Verlangen nach strafferer Einheit 
Deutschlands und in der Forderung nach der durch Ge- 
setz zu regelnden Mitwirkung des Volkes an der Leitung 
der Einzelstaaten, d. h. in der Forderung nach dem Erlaß von 
Konstitutionen. Beide Forderungen wurden anfangs nur von ver- 
hältnismäßig wenigen ausgesprochen; bald aber traten immer mehr 
Patrioten als furchtlose und entschiedene Vertreter derselben auf und 
endlich riefen sie in der deutschen Nation zwei Bewegungen, die 
Einheits- und die Freiheitsbewegung, hervor, welche die ganze 
nun folgende Periode durchzogen und erst durch die Ereignisse der 
Jahre 1870/71 zum Stillstand kamen.
	        
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