Full text: Sammlung deutscher Gedichte für Schule und Haus

Betrachtung. 481 
b Wenn der IJlissos rauscht und die neu aufgrünende Talflur 
Zwischen dem Olwald bunt mit Anemonen sich schmückt, 
Welche Wonne gewährt es alsdann, mit dem Freunde der Jugend 
Auf den kolonischen Höh'n unter den Blumen zu ruhn, 
Oder durchs Marmorgebälk goldrostiger Säulen des Himmels 
Leuchtendes Blau, einsam, stillen Gemüts zu beschaun! 
Geibel. 
399. Ghaselen. 
h 
Der Löwin dient des Löwen Mähne nicht; 
Buntfarbig sonnt sich die Phaläne nicht; 
Der Schwan befurcht mit stolzem Hals den See, 
Doch hoch im Äther hausen Schwäne nicht; 
Die Rieselquelle murmelt angenehm, 
Doch Schiffe trägt sie nicht und Kähne nicht; 
An Dauer weicht die Rose dem Rubin, 
Ihn aber schmückt des Taues Träne nicht; 
Was suchst du mehr, als was du bist zu sein? 
10 Ein andres je zu werden, wähne nicht! 
2. 
O weh dir, der die Welt verachtet, allein zu sein, 
Und dessen ganze Seele trachtet, allein zu sein! 
Es schuf der unerschöpfte Schöpfer Geschöpfe rings, 
Und nicht ein einzig Wesen trachtet, allein zu sein: 
„Allein zu sein verschmäht die Tulpe des Tulpenbeets, 
Es scheut der Stern sich, wenn es nachtet, allein zu sein. 
Verlaß den Stolz, der deine Seele so tief betört, 
Der sich und seine Freuden schlachtet, allein zu sein! 
Sogar vom Throne reicht der Herrscher die Hand herab, 
10 Ihm schwindelt, wenn er sich betrachtet, allein zu sein; 
Dem Klausner selbst im Wald gesellt sich sein Gottesbild, 
Weil betend er's für sündlich achtet, allein zu sein. 
Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde nichts, 
Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der Gesunde nichts! 
Und wäre nicht das Leben kurz, das stets der Mensch vom Menschen erbt, 
So gäb's Beklagenswerteres auf diesem weiten Runde nichts! 
5Einförmig stellt Natur sich her, doch tausendförmig ist ihr Tod, 
Es fragt die Welt nach meinem Ziel, nach deiner letzten Stunde nichts; 
Und wer sich willig nicht ergibt dem eh'rnen Lose, das ihm dräut, 
Der zürnt ins Grab sich rettungslos, und fühlt in dessen Schlunde nichts. 
Wendt, Sammlung deutscher Gedichte. 
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