Full text: Deutsche Poesie von den Romantikern bis auf die Gegenwart

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Adalbert von Chamisso. 
13. So hatt' die Sonn' eine Zunge nun; 
Der Frauen Zungen ja nimmer ruhn. 
„Gevatterin, um Jesus Christ! 
Laßt Euch nicht merken, was Ihr nun wißt!“ 
Nun bringt's die Sonne an den Tag! 
14. Die Raben ziehen krächzend zumal 
Nach dem Hochgericht, zu halten ihr Mahl. 
Wen flechten sie aufs Rad zur Stund'? 
Was hat er gethan? Wie ward es kund? 
Die Sonne bracht' es an den Tag. 
122. Erscheinung. 
1. Die zwölfte Stunde war beim Klang der Becher 
Und wüstem Treiben schon herangewacht, 
Als ich hinaus mich stahl, ein müder Zecher. 
2. Und um mich lag die kalte, finstre Nacht; 
Ich hörte durch die Stille widerhallen 
Den eignen Tritt und fernen Ruf der Wacht. 
3. Wie aus den klangreich festerhellten Hallen 
In Einsamkeit sich meine Schritten wandten, 
Ward ich von seltsam trübem Mut befallen. 
4. Und meinem Hause nah', dem wohlbekannten, 
Gewahrt' ich, und ich stand dersteinert fast, 
Daß hinter meinen Fenstern Lichter bramuen. 
5. Ich prüfte zweifelnd eine lange Rast 
Und fragte: „Macht es nur in mir der Wein? 
Wie käm' zu dieser Stunde mir ein Gast?“ 
6. Ich trat hinzu und konnte bei dem Schein 
Im wohlverschloss'nen Schloß den Schlüssel drehen 
Und öffnete die Tür und trat hinein. 
7. Und wie die Blicke nach dem Lichte spähen, 
Da ward mir ein Gesicht gar schreckenbleich: 
Ich sah mich selbst an meinem Pulte stehen. 
8. Ich rief: „Wer bist du, Spuk?“ Er rief zugleich: 
„Wer stört mich auf in später Geisterstunde?“ 
Und sah mich an und ward, wie ich, auch bleich. 
9. Und unermeßlich wollte die Sekunde 
Sich dehnen, da wir starrend wechselseitig 
Uns ansahn, sprachberaubt, mit offnem Munde.
	        
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