Die Rabendocke bei Goldberg. ' 93
ihre Strafe; denn auch von dort war kein Ausweg mehr zu finden. Plötzlich
wurde das Gewölbe hell, eine finstere Gestalt trat herein und fprych zu den
Rittern: „Wehe, wehe! Das Maß eurer Sünden ist voll; ihr habt niemals
Erbarmen geübt, darum sollt auch ihr nicht vor den Thron der Barmherzigkeit
des Höchsten gelassen werden. Werdet, was ihr in eurem Leben schon zu sein
schient, zu Steinen. Die steinernen Bilder eurer Leiber sollen zwar unbeweglich,
aber nicht unbelebt sein, und so sollt ihr auf euren mit unschuldigem Blute
befleckten Schätzen sitzen ewiglich als belebte Felsenstücke, unaufhörlich gefoltert
von schrecklicher Reue. Gleichwohl hat die Gnade des Allerbarmers euch einen
Weg zur Erlösung offen gelassen. Alljährlich in der geweihten Nacht, in welcher
der Erlöser der sündigen Menschheit, also auch euch geschenkt wurde, sei eure
Felsenpforte eine kurze Zeit geöffnet. Mit dem Glockenschlage der Mitternacht
''wird sie sich aufthuu; aber sobald das erste Viertel der ersten Stunde ertönt,
schließt sie sich wieder für das ganze Jahr. In dieser Nacht ist es einem
Sterblichen vergönnt, euch von eurer Qual zu befreien. Er lege euch drei
Fragen vor, zertrümmere eure Felsenhüllen und nehme die Schätze; doch ehe
die Viertelstunde Verslossen ist, muß er im Freien sein, sonst ist es um sein
Leben geschehen und sein Blut lastet auf eurer Seele." Mit diesen Worten
verschwand die unheimliche Erscheinung. Da erkalteten die warmen Leiber der
Bösewichter, ihre Formen blieben, aber sie. wurden zu festem Stein. Das
Blut stand in seinem Laufe still, und au seiner Stelle schlängelten sich rote
Felsenadern durch die steinernen Bilder.
So vergingen viele Jahre; niemand hörte wieder etwas von den einstigen
Bewohnern der Wolfsburg und der Rabenschenke. Da trug es sich zu, daß
ein Ritter nach Goldberg kam, um sich von einem Sturz vom Rosse heilen zu
lassen. Während er in der Herberge rasten mußte, wurde ihm die Sage von
der Rabendocke mitgeteilt, und er beschloß, sein Glück mit ihr zu versuchen.
Er begab sich also am Morgen vor dem heiligen Abend in das Seifenthal, um
sich mit der Gegend bekannt zu machen. Eisig kalte Winde wehten durch die
öde und menschenleere Gegend, und außerdem machte starkes Schneegestöber das
an sich schon unheimliche Thal noch unheimlicher. Als er an den Felsen heran-
kam, hörte er ein starkes Schnarchen, welches aus dem Felsen selbst herauszu-
kommen schien, und entdeckte auch die steinerne Pforte. Nachdem er nun die
ganze Gegend durchspäht hatte, ging er getrosten Mutes wieder nach Goldberg
zurück, entschlossen, in der nächsten Christnacht das Abenteuer zu bestehen. Kurz
vor 12 Uhr nachts begab sich der Ritter auf den Marsch und war bald in dem
Thale, in welchem ein Zischen, Rauschen und Toben herrschte, als ob die Geister
der Finsternis losgelassen wären. Er eilte der Thür zu. Sie stand offen. Im
Innern der Höhle waren zwei steinerne Bilder und ein lebendiges Wesen zu sehen.
Eben wollte er eintreten, da schlug es ein Viertel. Ein Weib, das einen
schweren Sack unter dem Arme trug, stürzte atemlos heraus, hinter ihr schloß
sich mit einem fürchterlichen Getöse die Thür, und ein gräßliches Hohngelächter
erscholl aus dem Innern des Felsens. Das Weib sah sich um, stürzte gegen
die Thür, raufte verzweiflungsvoll ihr Haar, rang die Hände zum Himmel
empor und schrie im wütendsten Schmerze: „Mein Kind, mein armes Kind, ich
Rabenmutter habe mein unglückliches Kind verlassen." Nur mit Mühe konnte
der Ritter die Frau beruhigen und von ihr erfahren, daß sie gehört habe, man