Full text: Deutsche Geschichte für die mittleren Klassen (Teil 2)

308 Das Zeitalter der Zerstörung des alten und der Entstehung des neuen Reichs. 
unterschrieb er die Urkunde, welche den Schluß des Reichstages an- 
ordnete. Gegen Abend, als die Schwäche zunahm, versammelte sich 
die königliche Familie, dazu Bismarck und Moltke, um sein Lager. 
Als ihn seine Tochter, die Großherzogin Luise von Baden, mahnte, 
seme Kräfte zu schonen, erwiderte er: „Ich habe nicht Zeit, müde 
zu sein! In der Nacht schien eine kleine Besserung einzutreten; 
aber am nächsten Morgen wurde der Puls immer schwächer. Der 
Oberhofprediger Kögel sagte dem Sterbenden Sprüche vor; die greise 
Kaiserin hielt ihm die Hand; Prinz Wilhelm kniete neben dem Bette 
ÄSl 9- März um y2 9 Uhr schied der Kaiser aus dem Leben; gleich 
s-März daraus sank die auf dem Schlosse wehende Kaiserstandarte halbmast 
und verkündete der harrenden Menge, daß Deutschlands erster Kaiser 
entschlafen war. Wenige Stunden später teilte der Reichskanzler, selbst 
auf das tiefste ergriffen und mit den Tränen kämpfend, dem Reichs- 
tage das erschütternde Ereignis amtlich mit. „Die heldenmütige 
Tapferkeit", sagte er damals, „das nationale hochgespannte Ehr- 
gefühl und vor allen Dingen die treue, arbeitsame Pflichterfüllung 
im Dienst des Vaterlandes und die Liebe zum Vaterlande, die in 
unserm dahingeschiedenen Herrn verkörpert waren, mögen sie ein un- 
zerstörbares Erbteil unsrer Nation sein, welches der aus unsrer Mitte 
geschiedene Kaiser uns hinterlassen hat!" 
Inzwischen war der in San Renro weilende Thronerbe tele¬ 
graphisch benachrichtigt worden. Als er, im Garten weilend, die 
Depesche mit der Aufschrift „An des Kaisers und Königs Majestät" 
erhielt, brach er in heftige Tränen aus. Am nächsten Tage bereits 
eilte der sieche deutsche Kaiser über die schneebedeckten Alpen nach 
seiner Hauptstadt. Am 16. März wurde, geleitet von der tiefen und 
herzlichen Trauer seines Volkes, von Kundgebungen des Beileids 
aus allen Teilen der Welt, die Seiche Kaiser Wilhelms I. in das 
Mausoleum zu Charlottenburg übergeführt, wo seine 
königlichen Eltern ruhten. 
^Kaiserin Am 7. Januar 1890 folgte ihm seine Gemahlin;, dieKaiserin 
"s" Augitsto, im Tode nach und wurde an seiner Seite beigesetzt. In 
ihrer Jugend hatte sie mit Goethe verkehrt; für das geistige Leben 
der Nation bewahrte sie immer ein reges Interesse. Besondere 
Teilnahme aber brachte sie den Bestrebungen entgegen, die auf bessere 
Pflege der Verwundeten im Kriege gewichtet waren. Auf Anregung 
des Genfers Dunant, der auf dem Schlachtfelde von Solferino 
die Schrecken des Krieges kennen gelernt hatte, war 1864 die 
Genfer Konvention geschaffen worden, die seitdem von allen 
Kulturstaaten anerkannt worden ist. Die „Vereine vom roten Kreuz", 
die sich die freiwillige Pflege von Verwundeten und Kranken zur 
Ausgabe machen, fanden seitens der Kaiserin immer die tatkräftigste 
Förderung.
	        
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