Die Schicksale Griechenlands bis jetzt. 345
Zustand des Landes.
Die Neu ariechen haben die Hauptzüge des altgriechischen Volkscharakters be-
halten, obgleich sie im Lause der Jahrhunderte sich vielfach mit anderen Volkern ver-
mischten. Selbst das griechische Familienleben hat sich wenig verändert. Die Frau
lebt noch ohne Freiheit in ihren Räumen, und der Vater hat eme an asiansches Fa¬
milienrecht erinnernde Gewalt über seine Kinder. . rr-v
Die Glanütätten der althellemschen Cnltur sind letzt zerfallen: an der Stelle
des alten heiligen Delphi liegt ein armseliges Dorf Namens Kastrt dte Scheune
und die Ställe eines Landmannes bedecken den Raum, wo eins der Apollontempel
stand. K orinth wurde durch ein Erdbeben 1358 fast ganz zerstoß Der Poseidon-
tempel bei Korinth ist ein Trümmerhaufen, die Rennbahn, wo bte Mnnfchen ©ptele
gefeiert würben, ein Gerstenfeld. Olympia ift traurig verödet. Wald unb Jisetbe
bedecken ben Boben, unb in bem stillen Walbthale verkünden nur noch wenige aus-
gegrabene Mauer- und Säulenreste die einstige Pracht. Die alten Uferdamme des
Alpheios sind zerfallen, und der Strom wälzt sich unstät m fernem weiten Bette,
bald dieses bald jenes Ufer mit Kies und Schlamm bedeckend, ^n Arkadien sind
die Abzugskanäle vernachläfsigt und viele Gegenden sind dadurch versumpft und un-
bewohnbar, die früher eine blühende Stätte der Cultur waren.
Auch aus Sicilieu und in Unteritalien sind bte herrlichen Kunstwerke ber
Griechen in bem Sturme ber Zeiten zerfallen, unb nur Trümmer verrathen bte alte
Größe unb Herrlichkeit.
iv. Abschnitt.
Die Cnltur der Griechen.
§ 60.
Einleitung.
Mach der großen griechischenVölkerwanderung, der Rückkehr der Herakliden
tu denPeloponnes 1104 v. Chr., begann die eigentliche griechische Cultur
sich erst zu entwickeln. Vorher war dieselbe noch mehr mit der des Orient
verwandt. Die Cultur, namentlich die Kunst des heroischen Zeitalters,
wie wir sie aus den Schilderungen Homers und aus geringen Uberresten
kennen, verräth einen gewissen Zusammenhang mit der assyrisch-per-
fischen Kunst. Nach der griechischen Völkerwanderung aber brach sich ein
selbstständiges Entwickeln des eigentlich griechischen Wesens in Staats-
sorm, Leben und Kunst Bahn. Von da an brach das Griechenthum
mit dem Orient.
Der Orientale steht der Natur nicht frei und selbstbewusst gegenüber, deshalb
sind et sich nirgends in der orientalischen Kunst eine vollendet edle Menschen -
gestalt. Erst der Grieche vermag die menschliche Gestalt in ihrer natürlichen
Schönheit und in geistiger Freiheit darzustellen. Die griechische Kunst schließt sich
nun zwar genau an die Natur an, aber sie fafste dieselbe mit Größe und hohem
Sinne aus. Sie schuf ideale Menschengestalten von allem Unwesentlichen und allem
Zufälligen frei. Gewisse phantastische (nur durch bie Einbilbung geschaffene) Gestalten,
wie bie Sphinx, bie Harpyien u. a-, welche dem Orient entliehen sind, behielt die
griechische Plastik (Bildnerei) bei, allein sie drückte sie zu Nebenfiguren herab. Wo
die griechische Plastik den menschlichen Körper mit dem thierischen verband, behielt
sie im Gegensatze zu der orientalischen Kunst, mit wenigen Ausnahmen wie bei dem
Minotauros, den menschlichen Kopf, den Träger des geistigen Lebens bei.
Bei den Knnstsch'öpsungen der anderen alten Völker waren entweder
der Verstand oder die Phantasie allein thätig, bei den Griechen
aber waren beide aufs innigste verbunden. Der Charakter der orienta-