VI. Die Flucht nach Memel.
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sagte der König, „denn vielleicht findet sich an Deinem
Geburtstage nicht die nötige Zeit dazu." Denn es ist
Sitte, daß die Prinzen aus dem königlichen Hause, wenn
sie 10 Jahre alt werden, als Offiziere in die Armee ein-
treten.
Noch zu schwach zum Gehen, wurde die Königin bei
fürchtlichem Sturm und Schneegestöber in den ersten
Tagen des Januar in ihren Reisewagen hinabgetragen,
um nach Memel zu fahren. Der Weg führte hart an der
Küste der Ostsee entlang über eine zwanzig Meilen lange,
sehr schmale Landzunge, die kurische Nehrung, deren hohe
Sanddünen das offene Meer von einem Strandsee, dem
Haffe, nennen. Nur wenige Fischer bewohnen in ärm-
lichen Dörfern den unfruchtbaren Sand der Nehrung.
Drei Tage und drei Nächte währte die Reise. Am
Tage fuhr man teils durch die Sturmwellen des Meeres,
teils durch das brechende Eis der Lachen am Strande, die
Nächte ruhte man in den elendesten Herbergen. Die erste
Nacht lag die Königin in einer Stube, wo die Fenster
zerbrochen waren, und der Schnee ihr auf das Bette ge-
weht wurde. „So hat noch keine Königin die Not em-
pfunden!" seufzten ihre Reisebegleiter, von der ängstlichen
Besorgnis zugleich gequält, daß ein plötzliches Ende die
kaum genesene, hohe Frau hinwegnehmen könne. Aber sie
selbst erhielt ihren Mut und ihr Vertrauen auf Gott auf-
recht, tröstete und belebte alle. Endlich erblickten die Rei-
senden Memel am jenseitigen Ufer des Haffes. Zum ersten
Male seit mehreren Tagen brach die Sonne durch die Wol-
ken und beleuchtete mild und schön die Stadt. Breite
Pfeifer, Kaiser WilhelmI. 2