Full text: Deutsche, vornehmlich brandenburgisch-preußische Geschichte bis 1815 (Teil 2)

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Ein mit dem Tode kämpfender Offizier rief die Vorüberziehenden um Hilfe 
an, ihn aufzurichten: „Ich bin ein Offizier vom Genie, Kameraden, helft mit!" 
schrie er. Spottend erhielt er die Antwort: „Ah! wenn du ein Genie bist, so be- 
darfst du feiner Hilfe, hilf dir selbst!" 
Aber welche Erleichterung hätte matt solchen Unglücklichen auch gewähren 
können? Wir waten alle denselben Leiden preisgegeben, denen sie unterlagen; wir 
litten unter denselben Entbehrungen, unter denselben Schicksalen, und jeder er- 
wartete, früher oder später, ihr trauriges Los zu teilen. 
Manche dieser Sterbenden, ehe sie ihren letzten Seufzer aushauchten, sammelten 
noch ihre letzten Kräfte, um ihren ganzen Haß, den sie gegen Napoleon hegten, 
auszudrücken. Als den Urheber ihrer Leiden überhäuften sie ihn mit den schreck¬ 
lichsten Verwünschungen. 
Ein französischer Verpflegungsoffizier lag mitten auf der Straße. Ein Fuhr- 
werk hatte ihm die Füße zermalmt. Die fürchterlichsten Verwünschungen stieß er 
brüllend gegen den Kaiser aus, der zufällig eben vorüberritt. Napoleon tat, als 
hörte er sie nicht; aber seine Umgebung schauderte sichtlich zusammen. Als er 
vorüber war, schrie er ihm noch nach und richtete sich gegen die Vorüber- 
ziehenden: „Folgt ihm nicht, diesem Wahnsinnigen, diesem Mörder des Menschen- 
geschlechts! Sollte nicht ein Brutus unter euch sein, der ihm seinen verdienten 
Lohn gebe und die Erde von diesem Ungeheuer befreite?" 
Von solchem namenlosen Jammer heimgesucht, kam das fliehende Heer am 
4. Dezember gegen Abend in die Nähe von Malodetschno, wo sich die Feinde 
zum erstenmal wieder in zahlreichen Trupps vor uns und zur Seite sehen ließen. 
Bei dem Anblick dieser Kosakenpulks drängte sich die Schar der waffenlosen 
Flüchtlinge wie eine Herde zusammen, in die der Wolf einbricht. 
Noch gab es einige bewaffnete Trümmer dieses kriegsgewohnten Heeres, die 
selbst jetzt das Gesetz der Ehre noch nicht vergessen hatten. Die Reihen dieser Be- 
wasfneten ordneten sich, die Bedeckung einiget Kanonen zu machen, die bei dem 
Trupp, aber im Zustand der schlechtesten Bespannung, zufällig zugegen waten. 
Mutig und entschlossen gingen sie nun dem Feinde zu Leibe und machten 
nach einigen Salven auf der Heerstraße wieder Bahn. Die Russen, zwar nicht 
weichend, doch auch nicht schnell nachrückend, folgten beobachtend und nur von 
Zeit zu Zeit Feuer gebend, nach. 
Die einbrechende Nacht machte dem an sich unbedeutenden Gefechte ein Ende. 
Aber wir hatten auch wieder die traurige Gewißheit, daß wir nun wieder täglich 
mit der unangenehmen Nähe des Feindes zu kämpfen hatten, der uns eingeholt 
hatte und jetzt unablässig zur Seite blieb. 
Den anderen Morgen beim Aufbruch war vom Städtchen nicht mehr übrig 
als ein Schutthaufen oder die Stellen abgetragener Häufet. Die Kälte hatte sich 
gegen den Morgen des 5. Dezember wieder um einige Grad gesteigert. 
Vor Tag wurde aufgebrochen, und mit tief verhüllten Gesichtern zog man in 
dumpfer Betäubung nebeneinander her. Der bloße Ruf: Kosak! brachte ganze 
Kolonnen in kurzen Trab, denn ihre Kraftlosigkeit erlaubte keine schnellere Be- 
wegung, und öfters machte ein halbes Dutzend Kosaken Hunderte ohne Gegenwehr 
zu Gefangenen. 
Es war ein Anblick des Erbarmens, die Reste der vor wenigen Monaten 
noch so furchtbaren, so schönen und tatenreichen Armee, eben diese traurigen 
Überbleibsel, die in ihrer übermenschlichen Ausdauer den Kern der Armee aus-
	        
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