§ 28. Die Entwicklung des deutschen Geisteslebens. 137
Vismus, eine Erfahrungsphilosophie, die sich lediglich auf Beobachtung
gründet, den Menschen nur als ein Stück der Naturverkettung betrachtet,
das Augenmerk dabei auf das in der Mannigfaltigkeit des Völkerlebens
Konstante richtet und so die Naturgesetze der Entwicklung auffinden will.
Auf seinen Schultern steht der Engländer. Buckle, der in seiner unvollendeten
„Geschichte der Zivilisation in England" (1857—1861) vor allem mit Hilfe
der Statistik die Gesetze der Entwicklung aufzudecken versucht und einen
Fortschritt der Menschheit nur auf dem Gebiete der Verstandesbildung, nicht
aber auf dem des sittlichen Lebens zu erkennen vermag. Die schlimmste
Entartung realistischen Denkens brachte Deutschland hervor, wo etwa zwischen
1850 und 1870 der Materialismus die Grundsätze der theoretischen
Physik einfach auf das Geistesleben übertrug, dieses aller Selbständigkeit
entkleidete und zu einer bloßen Wirkung materieller Vorgänge machte (Vogt,
Czolbe, Moleschott, Büchner). Auf ethischem Gebiete wies man die idea¬
listische Lehre, daß sich in allem Menschenschicksal eine höhere Vernunft
offenbare, und die daraus folgende Begeisterung für Kultur und Fortschritt
zurück, rückte die Schmerzen und Mängel des Lebens in ihrer nackten Tat-
sächlichkeit, die Unvernunft der ganzen Geschichte in den Vordergrund und
kam so zu einem lähmenden Pessimismus, wie ihn Schopenhauer
vertrat und wie ihn in Deutschland namentlich die politischen Verhältnisse
begünstigten. Auch die Ästhetik geriet in den Bann der neuen Welt-
anschauung, wenn es sich auch hier weniger um grundsätzliche Verwerfung des
Idealismus als um Überwindung seiner Einseitigkeit handelte (vergl. S. 139).
3. Die Künste. Die beginnende Übermacht der Maschinenarbeit be-
drängte nicht nur das Handwerk, sondern riß es auch von der höheren
Stufe des Kunstg e w erb es herunter. Der fortschreitende Verfall des Geschmacks
und die Abwendung der Kunst vom Leben kamen hinzu, um das Kunst-
gewerbe aufs tiefste sinken zu lassen.
In ihrer höheren Sphäre entwickelten sich freilich die Künste mächtig
fort. K. Fr. Schinkel in Berlin flößte der entnervten Baukunst wieder Baukunst.
Kraft und Größe ein, indem er die erhabenen Formen der perikleischen Zeit
den modernen Bedürfnissen genialisch anpaßte (Kgl. Schauspielhaus, Altes
Museum [Dafel XXVII], Schloßbrücke usw. in Verlin, Nikolaikirche in Pots-
dam). Die Gotik wurde besonders durch den romantischen Geist der Zeit
gefördert (Wiederaufnahme des Kölner Dombaus nach dem 1814 wieder¬
aufgefundenen alten Plane). In München fanden die bildenden Künste
durch König Ludwig I. seit 1825 eine unvergleichliche Pflege, die keine
Stilgattung außer dem Rokoko ausschloß (Glyptothek, Bayrische Ruhmeshalle,
Propyläen [Dafel XX], Siegestor, Feldherrnhalle, Ludwlgskrrche Marm-
Hilf-Kirche, Neuer Königsbau usw. in München; Befremngshalle bei Kehlheim,
Walhalla bei Regensburg). Aus der Stille der vormarzüchen Zett führte
der geniale Gottfried Semper aus Altona den Baufttl hmuber m die
durch die Fülle neuer Gedanken und Aufgaben belebte zweite Hälfte des
19. Jahrhunderts. (Hoftheater, Synagoge, Museum usw. m Dresden.)
In der Bildhauerkunst hatte Dannecker in Stuttgart wie der große Plastik.
Thorwaldsen sich ganz der Antike ergeben, doch .in ettvas stanMscher
Auffassung. (Ariadne, Schillerbüste. Segnender Christus ^Tafel XIV].) ^n