Full text: Geschichtliches Lesebuch

Die Kolonisation des deutschen Ostens. 
Vordringen der Slaven, Rückeroberung des Ost¬ 
landes durch die Deutschen. Zur Zeit der Völkerwanderung 
verließen unsere Vorfahren ihre östlichen Wohnsitze und zogen nach 
Westen und Süden. In die verlassenen Gebiete drangen Slaven ein. 
Schlesien, das ganze Land im Osten der Saale und unteren Elbe, 
sowie das östliche Holstein wurden von Slaven besetzt. Slavische 
Ortschaften reichten sogar nach Sachsen hinein, nach Thüringen, 
Franken und Hessen, und bis über den Main hinüber, entweder weil in 
der Zeit der Völkerwanderung einmal eine slavische Völkerwelle 
soweit hinübergeschlagen war, oder weil die fränkischen Könige unter¬ 
worfene Slaven auf leerem Boden angesiedelt hatten. 
Aber später versuchten die Deutschen ihre alten Wohnsitze 
wiederzuerlangen. Seit Heinrich I. wollten die Kriege an der 
deutschslavischen Grenze kein Ende nehmen, und Ströme von Blut 
wurden vergossen. Nicht immer waren die Deutschen im Vorteil; 
schließlich wurden die Slaven aber doch besiegt. In den 200 Jahren 
von Heinrich I. bis auf Heinrich den Löwen gelang es den Deutschen, 
die Grenzen ihres Landes bis über die Oder hin auszudehnen. Dieses 
Land wurde von den Deutschen jedoch nicht bloß in die Reichs¬ 
grenzen eingeschlossen; es wurde auch germanisiert (1150—1300). 
Deutsche Sprache und christlicher Glaube, deutsches Recht und 
deutsche Sitte gelangten hier zur unbestrittenen Herrschaft. Viel 
mehr als jene Erwerbung ist diese Germanisierung des Ostens ein 
erstaunlicher Vorgang. Es war der größte Erfolg der Deutschen 
während des ganzen Mittelalters. 
Wagrien. Die deutsche Kolonisation begann vom äußersten 
Norden her. Auf dem slavischen Gebiete Wagriens gründete Graf 
Adolf II. von Holstein den ersten deutschen Kolonialstaat. Krieg 
und Raubzug hatten (1139) die Slaven dieses Gebietes zum Teil 
vernichtet; das Land war menschenleer. Darum sandte Graf Adolf — 
so erzählt eine alte Chronik — Boten aus in alle Länder, nach 
Flandern und Holland, nach Utrecht, Westfalen und Friesland, und 
hieß alle, die Land begehrten, mit ihren Familien nach Wagrien 
kommen. Da würden sie gutes Land erhalten, geräumig, in Über¬ 
fluß Fische und Fleisch bietend und strotzend von guter Weide. Auf 
das Gebot erhob sich eine unzählige Menge aus verschiedenen Stämmen, 
und sie kamen mit Kind und Kegel ins Land Wagrien zum Grafen 
Adolf, das verheißene Land zu besetzen. 
Außer den benachbarten Holsten kamen namentlich Westfalen, 
Landsleute des Grafen, der aus dem schauenburgischen Hause stammte,
	        
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