Full text: Geschichtliches Lesebuch

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die Ackerflur seiner Bauern und dadurch seinen Verdienst schmälere. 
In einigen Dörfern leistete das Landvolk sogar tätlichen Widerstand. 
Aber trotz aller Schwierigkeiten schritt der Bau vorwärts. Eine 
Lokomotive, der Komet, wurde in England angekauft und eine Weile 
für Geld zur Schau gestellt; auch der Wagenbauer und der Lokomotiv¬ 
führer kamen aus England. Im April 1837 konnte die erste Strecke 
von und nach einem nahen Dorfe befahren werden. Dicht gedrängt 
standen die Massen zu beiden Seiten der Bahn; kein lautes Wort 
ließ sich hören, so schrecklich wirkte der unerhörte Anblick. Die 
weit verbreitete Ansicht, daß durch die ungeheure Reibung notwendig 
die Radachsen in Brand geraten müßten, erwies sich als Irrtum. 
Dann mußte bei Machern durch eine Bodenschwelle hindurch, 
welche der Reisende heute kaum bemerkt, ein Einschnitt ausgeschaufelt 
werden. Von weither kamen die Fremden, um das Wunderwerk zu 
betrachten und gründlich zu beschreiben. Der schwierigste Kunstbau 
der Bahn, der Tunnel bei Oberau, wurde durch Freiberger Bergleute 
ganz nach Bergmannsbrauch wie ein Stollen von vier niedergesenkten 
Schachten aus in Angriff genommen, und als alles vollendet war, 
bildeten die Knappen in ihren Paradeanzügen und mit Fackeln in 
der Hand Spalier, um den ersten durchbrausenden Zug mit ihrem 
Glückauf zu begrüßen. Auch diese Fahrt gelang aufs beste, und 
damit war eine andre Befürchtung zu Boden geschlagen, nämlich 
die, daß bei der Tunnelfahrt, die fast eine Minute währte, ältliche 
und schwächliche Leute der Schlag treffen müsse, da sie den plötzlichen 
Luftwechsel nicht vertragen könnten. 
Im April 1839 wurde die ganze Bahn eröffnet, und die Vollendung 
dieser ersten größeren Bahn in Deutschland zeigte, daß sich die Pläne 
Friedrich Lists doch verwirklichen ließen. Der weiteren Ausführung 
stellten sich freilich gewaltige Schwierigkeiten in den Weg. Nur 
wenige vermögende Leute wollten ihr Geld hergeben, da die Anlage 
der Eisenbahnen ihnen keine Sicherheit bot. Die Regierungen ver¬ 
sagten die Erlaubnis zum Bau von Eisenbahnen oder machten den 
Unternehmern kleinliche Vorschriften. Aber die Einsicht, daß die 
Eisenbahn von ungeheurer Bedeutung sei, drängte allmählich alle 
Schwierigkeiten zurück, und es entstanden seit den vierziger Jahren auch 
in Deutschland eine ganze Menge Eisenbahnen, zunächst solche, welche 
das dringendste Bedürfnis nach einer besseren Verbindung befriedigten. 
So wurde Berlin mit dem Hafen Stettin, der Sommerresidenz 
Potsdam, der Festung Magdeburg und den großen Marktplätzen Leipzig 
und Frankfurt a. d. Oder verbunden. Eine Verbindung mit Westfalen 
und dem Rhein konnte noch nicht hergestellt werden, da die Wünsche 
Preußens den Wünschen der dazwischen liegenden Staaten wider¬ 
sprachen. Die Bahn von Leipzig nach Dresden kennen wir schon; 
eine andere wurde von Dresden nach Görlitz geführt. Auch auf 
die großen Handelsplätze Bremen und Hamburg richtete sich die Auf¬ 
merksamkeit, und sie wurden mit Berlin und mit Hannover verbunden. 
Im Westen entwickelte sich das Bahnnetz durch die Bergisch* 
Märkische Bahn, die Strecke der Rheinischen Bahn von Köln nach 
Aachen und nach Bonn, die Köln-Mindener und die Main-Neckar-
	        
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