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Die Tage kamen und gingen. Allmählich wurde es kümmerlich
mit dem Fliegenfang, und das Spinnchen mußte sein Netz vergrößern,
um mehr zu fangen. Und dank dem Faden von oben glückte die
Erweiterung des Netzes nach oben und nach den Seiten. Das Netz
überspannte die ganze Breite des Strauches, und wenn an einem heitern
Oktobermorgen Tautropfen drin hingen, so war es wie ein perlen—
bestickter Schleier anzusehen. Das Spinnchen war stolz auf sein Werk.
O, es war nicht mehr das kleine Ding, das auf einem kleinen Gespinste
durch die Cuft gesegelt gekommen war, ohne einen Pfennig in der
Tasche; jetzt war es eine große, bedeutende, wohlhabende Spinne mit
dem größten Netze längs der ganzen Hecke.
2. Eines Morgens erwachte es mit ganz besonders schlechter Caune.
Es hatte gefröstelt in der Nacht; nicht eine einzige Fliege summte,
hungrig und untätig saß das Spinnchen da den ganzen langen, grauen
Herbsttag. Um die Zeit totzuschlagen, machte es einen Rundgang durch
sein Netz. Es rüttelte an allen Fäden, um zu sehen, ob sie noch fest
wären; aber obgleich es keinen Fehler fand, blieb es doch sehr miß—
gestinemt. An der äußersten Rante des Netzes fand es endlich einen
Faden, den es nicht kannte. Sonst kannte das Spinnlein jeden einzelnen
und wußte, an welchem Zweiglein er befestigt war; aber dieser stand
aufrecht in der Cuft! Das Spinnlein richtete sich auf den Hinterbeinen
auf und guckte nach oben mit all seinen vielen Augen; aber es konnte
nicht entdecken, wohin der Faden ging. Er ging aufwärts in den
himmel! Immer ärgerlicher wurde 3 pinnchen, je länger es nach
oben starrte. Es erinnerte sich ganz nicht mehr, daß es einst
an einem schönen Septembertag an ebendiesem Faden hreled
war, und von wie großem Nutzen ihm dieser Faden bei der Ver⸗
größerung des Netzes gewesen war; nein, davon wußte es wirklich gar
nichts mehr. Dummer, überflüssiger Faden! Nach keiner einzigen
vernünftigen Stelle geht er hin, er ragt in die bloße Luft empor! Weg
mit ihm!
Mit einem Bisse war der Faden entzwei. Plötzlich gab das Ge—
webe nach; das ganze kunstvolle Netz fiel zusammen, und als das
Spinnchen zu sich selbst kam, lag es samt seinem Netze zwischen den
Dornen, das Netz als ein kleiner, feuchter Klumpen zu seinen Häupten.
In einem einzigen Augenblick hatte das Spinnchen seine ganze Herrlich—
keit vernichtet. — es hatte den Nuhzen des Fadens von oben nicht
verstanden.
Aus den „Gleichntssen“ von rhnnnn rtene in Kopenhagen.
(Deutsch bearbeitet von Reinhold Gareis.)
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