Full text: Für Klasse IV der höheren Knabenschulen, Klasse VII der höheren Mädchenschulen (Band 5, [Schülerband])

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Die Tage kamen und gingen. Allmählich wurde es kümmerlich 
mit dem Fliegenfang, und das Spinnchen mußte sein Netz vergrößern, 
um mehr zu fangen. Und dank dem Faden von oben glückte die 
Erweiterung des Netzes nach oben und nach den Seiten. Das Netz 
überspannte die ganze Breite des Strauches, und wenn an einem heitern 
Oktobermorgen Tautropfen drin hingen, so war es wie ein perlen— 
bestickter Schleier anzusehen. Das Spinnchen war stolz auf sein Werk. 
O, es war nicht mehr das kleine Ding, das auf einem kleinen Gespinste 
durch die Cuft gesegelt gekommen war, ohne einen Pfennig in der 
Tasche; jetzt war es eine große, bedeutende, wohlhabende Spinne mit 
dem größten Netze längs der ganzen Hecke. 
2. Eines Morgens erwachte es mit ganz besonders schlechter Caune. 
Es hatte gefröstelt in der Nacht; nicht eine einzige Fliege summte, 
hungrig und untätig saß das Spinnchen da den ganzen langen, grauen 
Herbsttag. Um die Zeit totzuschlagen, machte es einen Rundgang durch 
sein Netz. Es rüttelte an allen Fäden, um zu sehen, ob sie noch fest 
wären; aber obgleich es keinen Fehler fand, blieb es doch sehr miß— 
gestinemt. An der äußersten Rante des Netzes fand es endlich einen 
Faden, den es nicht kannte. Sonst kannte das Spinnlein jeden einzelnen 
und wußte, an welchem Zweiglein er befestigt war; aber dieser stand 
aufrecht in der Cuft! Das Spinnlein richtete sich auf den Hinterbeinen 
auf und guckte nach oben mit all seinen vielen Augen; aber es konnte 
nicht entdecken, wohin der Faden ging. Er ging aufwärts in den 
himmel! Immer ärgerlicher wurde 3 pinnchen, je länger es nach 
oben starrte. Es erinnerte sich ganz nicht mehr, daß es einst 
an einem schönen Septembertag an ebendiesem Faden hreled 
war, und von wie großem Nutzen ihm dieser Faden bei der Ver⸗ 
größerung des Netzes gewesen war; nein, davon wußte es wirklich gar 
nichts mehr. Dummer, überflüssiger Faden! Nach keiner einzigen 
vernünftigen Stelle geht er hin, er ragt in die bloße Luft empor! Weg 
mit ihm! 
Mit einem Bisse war der Faden entzwei. Plötzlich gab das Ge— 
webe nach; das ganze kunstvolle Netz fiel zusammen, und als das 
Spinnchen zu sich selbst kam, lag es samt seinem Netze zwischen den 
Dornen, das Netz als ein kleiner, feuchter Klumpen zu seinen Häupten. 
In einem einzigen Augenblick hatte das Spinnchen seine ganze Herrlich— 
keit vernichtet. — es hatte den Nuhzen des Fadens von oben nicht 
verstanden. 
Aus den „Gleichntssen“ von rhnnnn rtene in Kopenhagen. 
(Deutsch bearbeitet von Reinhold Gareis.) 
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