198 III. Zeitr. Die neuere Zeit. Von der Reformation bis jetzt.
nahe an den Gränzen Asiens liegt, seinen Einzug zu halten. Er hoffte, den
Winter hindurch von den großen Vorräthen dieser Stadt, die über 200,000 Ein¬
wohner zählte, sein Heer zu erhalten und, wenn der Kaiser Alexander nicht schnell
Frieden schlösse und ganz seinen Willen zu thun verspräche, im nächsten Jahre
gegen Petersburg zu ziehen. Allein diesmal betrog ihn seine Berechnung gänzlich.
Die Russen wollten, gleich den Spaniern, ihr Vaterland wegen einer unglücklichen
Schlacht nicht sogleich verloren geben, sondern lieber ihre eigene zweite Hauptstadt
den Flammen opfern, damit nur die Feinde hier keinen Stützpunkt fänden. _ Und
wirklich stand die große Stadt, zum Schrecken der Franzosen, gleich nach ihrem
Einzuge, plötzlich an hundert Stellen zugleich im Feuer, so daß an kein Löschen
zu denken war und alle die großen Vorräthe verbrannten. Es war ein ungeheu¬
res Opfer von Seiten der Russen; aber es war auch der Wendepunkt von Na¬
poleons ganzem Glücke. Von diesem Augenblicke an ging dasselbe rückwärts
und anderthalb Jahre nachher mußte er seilte angemaßte Krone niederlegen.
In der großen Brandstätte von Moskau konnte er nicht bleiben; Vorräthe
für das Heer aus der umliegenden Gegend zusammen zu bringen, war nicht mög¬
lich, denn die Russen hatten alles verheert; daher mußte er im Octobermonat
eiligst den Rückzug antreten. Er hoffte noch vor dem Einbruch des Winters die
Gegenden von Polen und Preußen zu erreichen, wo sein Heer Unterhalt finden
konnte. Allein im Rathe der Vorsehung war es anders beschlossen. Früher als
gewöhnlich, brach der Winter herein, der in den öden Steppen Rußlands sehr
furchtbar ist. Bald war alles mit tiefem Schnee bedeckt und der schneidende
Sturm wehte über die unabsehbaren Flächen; die Häuser und Dörfer, die an dem
Wege lagen, hatten seine Schaaren schon auf dem Hinwege zerstört, weil sie in
ihrem Uebermuthe nur an Sieg und Vordringen dachten; nun fanden sie nirgends
ein Obdach, um sich gegen die grimmige Kälte zu schützen, und keinen Bissen Brod,
um den nagenden Hunger zu stillen. Das rohe Fleisch der gefallenen Pferde
war ihre einzige Nahrung, und an jedem Morgen lagen Hunderte, ja Tausende
von ihnen erfroren auf den mit Schnee bedeckten Feldern. Dazu kanten die Rust
sen mit ihren leichten Reitern, die an die Schrecknisse ihres Winters besser gewöhnt
waren und ließen ihnen weder Tag noch Nacht Ruhe; wer nur irgend von dem
geschlossenen Zuge zurückblieb, wurde von ihnen niedergehauen oder gefangen. So
schrnolz das französische Heer mit jedem Tage mehr zusammen, alle Ordnung ver¬
schwand, und das Unglück stieg zu einer so schauderhaften Höhe, daß die Worte
fehlen, um es zu schildern. Am Ende kamen von der halben Million Menschen,
die der unersättliche Eroberer über die Gränze nach Rußland geführt hatte, kaum
30,000 Gesunde und Waffenfähige wieder zurück.
98. Die deutschen Befreiungskriege.
Der große Wendepunkt in Napoleons Schicksal, der Anfang seines Endes
war gekommen, und von allen Staaten war Preußen berufen den übermächtigen
und übermüthigen Gewalthaber mit stürzen zu helfen. Friedrich Wilhelttt III. und
das preußische Volk hatten die schwere Zeit seit 1807 sich zum Segen werdet*
lassen: die Jahre des Unglücks wurden eine Zeit der Läuterung. Der König
und seine edle Gemahlin, Luise, die leider noch während der Unglückszeit 1810
starb, sowie des Königs Minister, Reichsfteiherr vom Stein, waren durchs
drungm von dem Bewußtsein, daß eine gründliche Erneuerung auf allen Gebieterl
des Lebens noth thue, wenn Preußen sich wieder erheben oder gar zur Befreiung