109
Eben wollte man schon den Holzstoß anzünden, da stieß Krösus tiefe
Seufzer aus. „O Solon, Solon, Solon!" rief er mit lauter Stimme.
Cyrus hörte das und ließ ihn fragen, wen er da anrufe. Lange
konnte man aus ihm nichts herausbringen; endlich sagte er, „errufe
einen Mann. den alle Könige hören sollten." Darauf erzählte
er ihm von seiner Begegnnng mit jenem weisen Manne.
Mehrere Jahre vorher war nämlich der berühmte athenische
Gesetzgeber Solon auf seinen Reisen unter andern auch nach Sardes
gekommen und hatte den Krösus besucht-, der ihn sehr freundlich auf¬
nahm und einige Tage darauf durch seine Diener in seine Schatzkammer
führen ließ, wo ihm alle aufgehäuften Reichtümer gezeigt wurden.
Dann fragte ihn Krösus: „Mein lieber Solon, du bist ein weiser und
ein vielgereister Mann, sage mir doch, ist dir wohl auf deinen Reisen
irgend eilt Mensch vorgekommen, der viel glücklicher war als alle
andere?" — Er hoffte, Solon würde ihn nennen; aber dieser be¬
sann sich schnell und antwortete: „O ja, König, der Grieche Tellos!"
— „Tellos?" sagte Krösus; „Tellos? Von dem habe ich nie ge¬
hört; wer war der?" — „O," erwiderte Solon, „Tellos war ein sehr
glücklicher Mann; ihm wurden mehrere wohlgebildete, brave Söhne
geboren, und er erlebte noch, daß sie wieder Kinder bekamen, die
alle am Leben blieben. Ihm selbst ging nichts ab. und endlich fand
er einen ehrenvollen Tod. Er zog nämlich mit den Athenern zu
Felde und starb, nachdem er die Feinde in die Flucht geschlagen
hatte. Die Athener begruben ihn auf öffentliche Kosten und ehrten
sein Andenken." — Krösus schüttelte den Kopf; er hoffte doch wenig¬
stens die zweite Stelle einzunehmen und fragte, wen er denn nach
Tellos für den Glücklichsten halte. — „Kleobis und Biton," ant¬
wortete Solon. — „Auch die sind mir ganz unbekannte Men¬
schen.," meinte Krösus. — „Sie waren", sagte Solon, „brave
und starke Menschen, aus Argos gebürtig; sie siegten in den Kampf¬
spielen; aber die schönste That ihres Lebens war folgende: Bei
einem Feste der Here (Juno) sollte ihre Mutter, bie eine Priesterin
war, aus einem Wagen nach betn Tempel fahren; aber die Stiere
kamen nicht zur rechten Zeit aus betn gelbe zurück; bn spannten
sich bie Jünglinge selbst in bas Joch unb zogen ben Wagen