Full text: Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters

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3f)tn folgte Wilhelm II., unter dem Bismarck zunächst 
wieder freie Hand hatte. Aber da es für feinen Größenwahn 
feine Umkehr gab, so begann er den Bogen so zu überspannen, 
daß feiner getreuesten Gefolgschaft angst und bange wurde. 
Eine Reihe van Blamagen, namentlich auch ein Krakeel mit 
der Schweiz, die bei aller Nachgiebigkeit dach einen preußischen 
Polizeibeamten ausgewiesen hatte, der auf ihrem Boden lock- 
spitzelte, erschütterten selbst feinen diplomatischen Ruf. Die 
Kartellratten begannen unruhig auf dem Schiffe hin und her 
zu rennen, das offensichtlich zwischen die Klippen geriet, und 
die ultramontane Presse fand das geflügelte Wort: Es gelingt 
nichts mehr. 
Als letzten Rettungsanker betrachtete Bismarck die „mili¬ 
tärische Lösung" der Arbeiterfrage, die Erstickung der Ar¬ 
beiterbewegung in Strömen von Blut. Zwar hatten die 
Arbeiter genugsam gezeigt, daß sie sich durch feine Lock- 
fpitzelei vor die Kleinfalibrigen jagen ließen, um ein 
bankerottes System wieder zahlungsfähig zu machen. Allein 
Bismarck rechnete damit, daß er sie auf die Straße treiben 
würde, wenn er ihnen durch einen Staatsstreich das all¬ 
gemeine Wahlrecht raubte. Diesen Staatsstreich aber bereitete 
er vor, indem er im Oktober 1889 dem Kartellreichstage einen 
Gesetzentwurf vorlegte, der das Sozialistengesetz verewigen 
sollte, mit Verstärkung der „richterlichen Garantien" und 
ein paar anderen Milderungen derselben komischen Art. Bis¬ 
marck wußte, daß die Nationalliberalen hierauf nicht eingehen 
würden, da das „Unglücksgesetz", das die Sozialdemokratie 
immer gewaltiger anschwellen ließ, auch in liberalen Kreisen 
arg verrufen war. Immerhin dachten sie noch kläglich genug, 
für ihre Zustimmung zur Verewigung des Gesetzes nicht mehr 
zu verlangen als den Verzicht auf die polizeilichen Aus- 
weifungsbefugniffe des § 28, die sich von allen zweischneidigen 
Bestimmungen des Gesetzes als die zweischneidigsten erwiesen 
hatten und selbst schon bet den beschränktesten Polizeifeelen 
anrüchig geworden waren. Selbst die Junker waren bereit, 
für das also „gemilderte" Gesetz zu stimmen, und auch der 
Kaiser befürwortete feine Annahme im Kronrat. Bismarck 
aber widersetzte sich, nicht jedoch so, daß er öffentlich und 
offiziell das „gemilderte" Gesetz für unannehmbar erklärte, 
sondern hinter den Kulissen die Junker durch zweideutige 
Redensarten ermunterte, gegen das Gesetz zu stimmen, falls 
die polizeilichen Ausweifungsbefugniffe des § 28 gestrichen 
würden. Und als dies in zweiter Lesung geschah, stimmten
	        
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