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die Wahrheit und die Welt unter, da verliert man ja den Boden unter
den Füßen, da weiß man ja nicht mehr, woran man sich festhalten soll
im Leben und im Sterben. So dachten auch die Fürsten des Reichs¬
tages, so sehr sie auch in einzelnen Dingen Luther recht gaben. Es
graute sie, den festen Boden zu verlassen, auf dem das Christentum und
die christliche Wahrheit 14 Jahrhunderte lang gestanden hatte; es graute
sie, mit Luther ins Dunkle zu springen und mit ihm ein neues, christ¬
liches Leben anzufangen, in dem nur die eigene Überzeugung und die
heilige Schrift gelten sollte; es graute sie vor dem Mann, der die Quelle
aller Wahrheit in der eigenen Brust empfand — und so blieben sie bei
dem alten Grundsatz (Nur die Kirche entscheidet über die christliche
Wahrheit) und verdammten Luther mit seinem neuen Grundsatz (Nur
die eigne Überzeugung und die heilige Schrift entscheidet über die christ¬
liche Wahrheit). Und so stand Luther allein da, getrennt von der alten
Kirche und verstoßen von der weltlichen Macht, allein mit seinem Grund¬
satz, mit dem er eine neue Kirche gründen wollte. Es standen sich also
gegenüber einerseits der Grundsatz des Mittelalters und der
katholischen Kirche und andrerseits der Grundsatz der neuen
Zeit und der neuen Kirche.
Welcher Grundsatz ist nun richtig? Diese Frage können
wir nicht so einfach mit ja oder nein entscheiden, das muß jeder Christ
mit seinem Gewissen und seinem Gott ausmachen. Wer den Grundsatz
Luthers für richtig hält, gehört zur Partei der neuen Kirche, wer den
Grundsatz des Reichstages festhält, gehört zur Partei der alten Kirche.
Denn diese beiden Sätze sind eben die obersten Grundsätze der alten,
katholischen und der neuen, evangelischen Kirche. Zusammenfassung
vergl. IV. 2.
3. Wie hängt nun dieser Grundsatz Luthers mit
seinem andern Grundsatz zusammen: Der Mensch wird vor
Gott gerecht durch seinen Glauben an Christus, nicht durch seine äußer¬
lichen Werke? (Es ist das der Grundsatz Luthers, den er sich schon im
Erfurter Kloster errungen und am deutlichsten in seiner Schrift von der
Freiheit eines Christenmenschen ausgesprochen hat). Wenn mein Heil
bei Gott und sein Urteil über mich (du bist mir recht) allein von meinem
Glauben abhängt, d. h. von der Hingabe meines Herzens an Gott und
Christus, so hat kein Mensch auf Erden (auch keine Kirche oder Konzil)
das Recht und die Macht, mir das Heil abzusprechen oder zuzusprechen;
das hängt ganz allein von mir und Gott ab, denn nur er und ich können
mir ins Herz sehen, wo der Glaube wohnt; ich bin mein eigener Priester.
Also hat jeder gläubige Christ, der sich an Gottes Wort gebunden hat,
das Recht, seine Glaubensüberzeugung für wahr zu halten und allen
Menschen gegenüber darauf stehen zu bleiben. So geht also aus dem
ersten Grundsatz Luthers: Der Mensch wird vor Gott gerecht nicht durch
die Werke, sondern durch seinen Glauben — als notwendige Folge der
zweite Grundsatz hervor: Über die christliche Wahrheit entscheiden nicht
andere Menschen (Kirche, Konzil) sondern meine Überzeugung in meinem
Herzen und Gottes Wort in der heiligen Schrift. Diese beiden