Langen Brücke. Hier kaufte sie sechs Bilder ihres Gemahls in er¬
habener Arbeit, um sie ihren Kindern mit nach Kassel zu nehmen.
Die Abreise der Kaiserin erfolgte Donnerstag vormittag 9% Uhr.
Sie gestaltete sich zu einem ergreifenden Vorgang. Auf der Strecke
vom Regieruugsgebäude bis zum Bahnhöfe bildeten wie bei der
Abreise des Kaisers die Schüler und Schülerinnen sämtlicher hie¬
siger Lehranstalten Spalier. Alle trugen schwarz-weiß-rote Schär¬
pen und die Mädchen Blumenkränze im Haar. Hinter den Schüler-
reihen stand eine zahllose Menschenmenge. Als die halbgedeckte,
mit zwei prachtvollen Rappen bespannte Kutsche der Kaiserin
sichtbar wurde, erhob sich ein wahrer Jubelsturm. Die Kaiserin
dankte unausgesetzt und nickte besonders freundlich den Kindern zu,
die ihr Abschiedsgrüße darbrachten. In der Bahnhosstraße warf
eine Schülerin einen Strauß in den Wagen der hohen Frau, doch
fielen die Blumen auf der anderen Seite des Wagens herab.
Sofort ließ die Kaiserin halten und den Strauß aufnehmen. Dies
war das Zeichen zu einem unaufhaltsamen Blumenregen; denn
jedes Mädchen warf nun sein Sträußchen in den Wagen. Die
Kaiserin ließ die Kleinen ruhig gewähren.
Auf dem Bahnhöfe angekommen, verabschiedete sie sich und
bestieg den Eisenbahnwagen. In diesem Augenblicke hatten die
Schülerinnen in großer Zahl die Stufen zum Bahnsteig erklom¬
men und drangen zwischen den Polizeibeamten hindurch. Sie
stürzten mit hocherhobenen Blumensträußchen jubelnd auf den Wagen
der Kaiserin los. Immer mehr Mädchen folgten. Bis aufs Tritt¬
brett des Wagens kletterten die Kleinen und warfen ihre Blumen¬
spenden der hohen Frau zu, die glücklich lächelnd die duftigen
Gaben in das Innere des Wagens legte. Es war, als fcheide
eine geliebte Mutter von ihrer Kinderschar, und manches Auge
wurde feucht. Eins der Mädchen verabschiedete sich besonders
zärtlich mit den Worten: „Frau Kaiserin! Mit tiefem Weh sagen
wir Kinder Dir Ade! So nimm mit Dir aus allen Wegen unsere
Liebe und Gottes Segen!" Gerührt dankte die Kaiserin der Klei¬
nen. Unter lauten Scheidegrüßen der Anwesenden und Tücher-
und Hütefchwenken fetzte sich nun der Eifenbahnzng in Bewegung
und entführte die fortwährend dankende Kaiserin den Mauern
unsrer gastlichen Stadt.
Am 25. August 1900 weilte der Kaiser mit feiner Gemahlin
zum zweiten Male in der Stadt, aber nur für wenige Stunden.
Es war an dem Tage, an welchem das Denkmal feines Gro߬
vaters, das Reiterstandbild Kaiser Wilhelms des Großen, durch
ihn eingeweiht wurde.
Druck von Fr. Bartholomäus, Erfurt.