Full text: Deutsche Sozialgeschichte

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Neueste Zeit. 
schäften. Die Wählerscharen sind ohne inneren Zusammenhang und 
Organisation; die Stimmen werden nur gezählt, nicht gewogen; 
allen Massenbestrebungen ist freie Bahn gemacht, wüster Agitation 
Thor und Thür geöffnet. Bismarck aber, der ebenso geniale wie 
furchtlose Staatsmann, ergriff dies gefährliche Mittel, um sein 
nächstes Ziel zu erreichen und möglichstvieleVolksschichten, auch die bis 
dahin von der Politik ferngehaltenen Arbeitermassen, mit einem Schlage 
für das neue Deutschland unter Preußens Führerschaft zu gewinnen. 
Als das deutsche Reich auf den Volkswillen gegründet ward, 
hatten die Gebildeten und Besitzenden, „die monarchische Tradition 
und die loyale Gesinnung"*), noch das Übergewicht. Wenn nun 
aber die Zahl der Ungebildeten und deshalb leicht am Gängelband 
zu Führenden anwuchs? 
Ein Großstaat hat andere Bedürfnisse als eine Anzahl lose mit¬ 
einander verbundener Kleinstaaten. Deshalb mußte die nationale 
Einigung Deutschlands auch Ausgangspunkt für Umgestaltung der 
sozialen Verhältnisse werden. Sehr bald erlangte gerade infolge des 
allgemeinen Wahlrechts eine Partei politische Bedeutung, die ge¬ 
wöhnlich als alleinige Vertreterin des vierten Standes oder der 
Arbeiter angesehen und die sozialdemokratische genannt wird. 
*) Beides hebt Bismarck in einem Briefe an Bernstorff (15. April 
1866) hervor: deshalb würde das allgemeine Stimmrecht „die Einflüsse 
der liberalen Bonrgeoisieklasse beseitigen und auch zu monarchischen Wahlen 
führen". Im norddeutschen Reichstage sagte er 1867: „Ich habe stets 
im Gesamtgefühl des Volkes noch mehr Intelligenz als in dem Nach¬ 
denken des Wahlmannes bei dem Aussuchen des zu Erwählenden gefunden. 
Um gewählt zu werden bei dem direkten Wahlrechte, muß man in weiteren 
Kreisen bedeutenderes Ansehen haben, weil das Gewicht der lokalen Ge¬ 
vatterschaft nicht so zur Geltung kommt."
	        
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