314 II. Die Zeit neuer Staatenbildungeu. 
jeder Mensch ist verpflichtet, sich darüber klar zu werden, 
ob er nur für diese Welt oder sür eine unsichtbare Welt 
lebt. Da hängt nun Alles davon ab, ob man eine Offen¬ 
barung aus dieser jenseitigen Welt noch glaubt." Kaum 
mehr glaubte daran um den Anfang des Jahrhunderts 
die sog. gebildete Welt Deutschlands und seiner Nach¬ 
barländer. Der Rationalismus ließ ihr noch einen fernen 
Gott, eine lose Tugend und den Traum einer Unsterb¬ 
lichkeit mit immer steigender Vollkommenheit; von einer 
Erlösung der Sünder durch den gekreuzigten Gottmenschen 
und von einer Wiedergeburt derselben durch den heiligen 
Geist, um das Reich Gottes sehen zu können, wußte man 
nichts mehr. Die menschliche Natur war an sich schon 
gut. Gott aber war so ferne gerückt, daß man außer 
etwa noch im Gotteshause, auch nicht mehr die Hände 
vor ihm faltete. Das Gebet in der Familie und im 
Kämmerlein unterblieb. Alle wirkliche Religion hatte in 
den Kreisen der feineren Welt fast aufgehört. Katho- 
lischerseits grassirte derselbe Unglaube bei den Vornehmen, 
welche sehr häufig in den Freimaurerorden eintraten; und 
selbst eine Menge Priester hegte ihn für sich, wiewohl sie 
allerdings in ihrer Kirche nicht so frei damit hervortreten 
konnten. Die protestantischen Geistlichen aber huldigten 
fast alle offen „dem Vernunftglauben" und verkündigten 
ungehindert ihre kahle und trostlose Menschenweisheit. 
So breitete sich der Unglaube nun immer weiter auch 
unterm Volke aus, vornehmlich in den Städten. Und 
er trug reichlich seine bösen Früchte. Auch bei denen 
aber, welche sich keiner Abweichung von der Lehre des 
göttlichen Wortes bewußt waren, wurde doch das von der 
Kanzel ans nicht mehr belebte Christenthum immer matter 
und schläfriger. 
Damals war die Brüdergemeinde wie eine Oase in 
der Wüste. In ihr erhielt sich noch Christenglaube und 
Christenleben. Das kann auch von den sog. Pietistischen 
Kreisen Württembergs, des Wupperthals rc. gesagt wer¬ 
den. Einzelne Jünger des Herrn und einzelne ächtchrist-
	        
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