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Ehe jedoch das Gras ganz abwelkt, bietet die Steppe noch ein 
anderes Lebensbild; denn die menschenarme Steppe füllt sich plötzlich 
mit jubelnden, singenden Menschen. Sieh, von der Ukraine wie 
aus den Städten der Meeresküste jagen Leiterwagen voll Männer 
und Weiber in wildem Fluge durch die Steppe, daß der schwarze 
Staub in langen Wolken emporwirbelt. Es ist die Zeit der Heu¬ 
ernte, in welcher man viel rüstiger Hände bedarf, weshalb von 
allen Seiten her Arbeiter gedungen und in die Steppe geschafft 
werden. Von früh bis Abend klingt die Wiese nun wieder vom 
Gesang der Weiber, vom Rauschen des fallenden Grases und vom 
Gehämmer des Sensenschärfens, und des Abends sammeln sich ma¬ 
lerische Gruppen um das dünne Kochfeuer. Männer schärfen Sensen, 
Andere ruhen in den Pelz gewickelt, Frauen und Mädchen singen 
und.schwatzen, in der Ferne aber siebt man den hochbeladenen Heu¬ 
wagen nach dem Platze fahren, wie die Heuschober nach Art der 
Häuser reihenweise aufgebaut und die Schoberdörfer mit Wall und 
Graben umgeben werden. Richt minder lebhaft ists im Schilfwald 
geworden, da mit Schilf ein großer Handel getrieben wird, weil 
es als Hausdach und Hauswand dient, als Gartenzaun und Brenn¬ 
material benutzt wird. Ganze Regimenter sendet die Krone zum 
Schilfschneiden, ganze Städte und Dörfer wandern aus; da werden 
Wege durch Sumpf und Fluß mittelst der Schilfbündel gebaut, da 
rauscht es von Sensenhieben, vom Jubel der Arbeiter, da schwirrt 
es von aufgescheuchten Enten, Gänsen und Pelikanen, da giebt es 
mitunter ein Wolftreiben, oder einen Jagdfang, bis nach wenigen 
Wochen der Erntejubel auf der Steppe und am Fluß verstummt, 
die Menschen verschwinden, um den Heerden wie dem Wild freien 
Raum zu gewähren. Schweigend liegt die Steppe in der Sonnen- 
gluth; aus den Regenschluchten steigt ein glühendheißer Luftstrom, 
weite Risse klaffen auf am steinharten Boden, das Gras verdorrt, 
Teiche und Brunnen verdunsten, das Vieh magert ab und erträgt 
mit Ungeduld Hitze und Durst in schattenloser Steppe. Unaufhalt¬ 
sam trabt die sonst so langsame Heerde dem Tränkplatz zu und tritt 
regelmäßige geradlinige Pfade aus; am Brunnen des Dorfes steht 
sogar eine Schutzwache. Schwarzer Staub steigt bei jedem Schritte 
empor und mebrt die Qualen der Hitze; das Gras zerfällt mürbe 
in Asche, die Luftspiegelung zeigt ihre trügerischen Wasser- und Baum¬ 
landschaften, träge liegen die Heerden den Tag über in der Sonne, 
verlieren den Appetit und die Lebenslust. Erst mit Anfang des 
Septembers kühlt sich die Luft ab, Nachtthau und mitunter ein 
Regen erquicken die Pflanzen, die von Neuem grünen, die Heerden 
werden munterer, der Uebermuth der Steppenwildheit erwacht wie¬ 
der in ihnen, und bald tönt die Steppe wieder vom Hufschlag 
flüchtiger Roßheerden, vom Brüllen und Blöken der Rinder und 
Merinos, vom Kläffen der Hunde, vom langgezogenen eintönigen
	        
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