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und hieb seines Vaters schönstes Kirschbäumchen um. Des andern Tages
kam der Vater in den Garten, und als er das schöne Väumlein welk am
Boden liegen sah, ward er betrübt und zornig. „Wer mir das getan
hat," rief er, „der soll es mir schwer büßen!" Aber wer es getan hatte,
das wußte kein Mensch — außer einem; der stand gerade hinter der Hecke,
hörte, wie der Vater so zürnte, und wurde feuerrot. „Es ist schlimm,"
dachte er; „aber wenn ich's verschweige, so wär's eine Lüge und lügen
mag ich nicht!" So trat er denn schnell in den Garten zum Vater und
sagte: „Vater, ich habe das Bäumchen umgehauen! Es war unrecht
von mir!" Da sah der Vater den Knaben an und machte wohl noch ein
ernstes Gesicht, aber er zürnte nicht mehr.
Der kleine Knabe lebte in Amerika und wurde nachher ein braver
Mensch und dazu ein gewaltiger General, hat auch in seinem ganzen Leben
nicht gelogen. Er hieß Georg Washington. Berfasser unbekannt.
82. Suwarow.
Der Mensch muß eine Herrschaft über sich selbst ausüben können,
sonst ist er kein braver und achtungswürdiger Mensch, und was er einmal
für allemal als recht erkennt, das muß er auch tun, aber nicht einmal
für allemal, sondern immer.
Der russische General Suwarow, den die Türken und Polacken,
die Italiener und die Schweizer wohl kennen, der hielt ein scharfes und
strenges Kommando. Aber was das Vornehmste war, er stellte sich unter sein
eigenes Kommando, als wenn er ein anderer und nicht der Suwarow
selber wäre, und sehr oft mußten ihm seine Adjutanten dies und jenes
in seinem eigenen Namen befehlen, was er alsdann pünktlich befolgte.
Einmal war er wütend aufgebracht über einen Soldaten, der im Dienst
etwas versehen hatte, und sing schon an ihn zu prügeln. Da faßte ein
Adjutant das Herz, dachte, er wolle dem General und den Soldaten einen
guten Dienst erweisen, eilte herbei und sagte: „Der General Suwarow
hat besohlen, man solle sich nie vom Zorne hinreißen lassen." Sogleich
ließ Suwarow nach und sagte: „Wenn's der General befohlen hat, so
muß man gehorchen." Joh. Pet. Hebel. Werke. Hrsg.vonO.Behaghel.. T II. S. 134.
83. Die Schafe.
Ein junger Schäfer hütete in dem Gebirge seine Schafe. Eines
Tages saß er auf einen: Felsenstücke in dem Schatten einer Tanne. Er
schlief ein und wankte und nickte im Schlafe beständig mit dem vorwärts
hängenden Kopfe. Der Schafbock, der nicht weit von ihm graste, meinte,
der Schäfer fordere ihn zum Zweikampfe heraus und wolle mit ihm stoßen.
Der Bock nahm daher eine drohende Stellung, ging, um einen rechten
Anlauf zu nehmen, einige Schritte rückwärts, rannte dann ans den
Schäfer zu und versetzte ihm mit seinen Hörnern einen gewaltigen Stoß.
Der Schäfer, der sich ans seinem süßen Schlummer so unsanft geweckt sah,
geriet in wütenden Zorn. Er sprang auf, packte den Bock mit beiden
Fäusten und schleuderte ihn weit von sich. Der verscheuchte Bock rannte
fort und stürzte in den nahen Abgrund. Die Schafe, wohl ihrer hundert,