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I. Germanische Art und Sitte.
Eine Anzahl unter sich verwandter Familien bildete die Sippe
(Sippschaft, Freundschaft), und die Verwandten nannten sich „Ge-
sippte" oder „Freunde". Nach der männlichen Seite hin hießen
sie „Schwertmagen", nach der weiblichen „Spindelmagen". Sippe
bedeutet Friedensvertrag; aus diesem Begriff ergab sich für die
Glieder die Pflicht gegenseitiger Liebe und Äilfe. Gesippte mußten
einander bis zum Tode gegenseitig die Ehre wahren; sie gewährten
sich Rechtsschutz und Eideshilfe (Sippschaftsfriede, Sippschaftstreue).
Kein Band galt dem Germanen heiliger als das Sippschaftsband
gemeinsamen Blutes. Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit deuten
schon die alliterierenden Namen innerhalb der Sippschaft an (Gibich,
Günther, Gernot, Gifelher; Sigmund, Siglind, Sigfried; Äeinbrand,
Äildebrand, Äadubrand). Friedensbruch innerhalb der Sippe war
das schlimmste Verbrechen. Bruderfehde, so hieß es, werde einst dem
Weltbrande vorhergehen. Der Friedensbrecher wurde für vogelfrei
erklärt; seine Wohnstätte wurde zerstört, niemand durfte ihn beher¬
bergen; wem er in den Weg kam, der hatte Recht und Pflicht, ihn
zu töten. In Fällen schwerer Schädigung durch Verletzung oder
Totschlag trat die gesamte Sippe rächend für den Genossen ein.
Totschlag vergalt man gewöhnlich mit Blut, doch begnügte man sich
schon frühzeitig mit einem „Wergeld", d. H. Manngeld, der gesetzlich
bestimmten Buße für den getöteten Mann. Auch das Äeer schritt
nach Sippen geordnet in die Schlacht. Es stand im Kampfe Freund
neben Freund, der Vater neben seinem Sohne; das zusammenhaltende
Band war nicht die Disziplin, sondern die persönliche Treupflicht.
Die Gesippten wohnten gemeinsam auf einer Lichtung, die die
Väter einst gerodet und zur Ackerflur hergerichtet hatten. Wurde
das Pflugland im Frühling an die Haushaltungen verteilt, so blieben
Wald und Weide, Bäche und Seen gemeinsamer Besitz, die Almende.
Dieser Gemeinbesitz bildete die Mark, d. H. Flurgrenze und Flur,
und so waren die Gesippten zugleich „Markgenossen", die den Ertrag
der Mark mit einander „genossen".
Mit der Leitung der Gemeinde betraut war der Schultheiß,
der Strafe „Leischende"; gemeinsam mit den Markgenossen verhandelte
er unter der Dorflinde, am Marksteine oder wohl auch beim schäumenden
Met über Störungen des Friedens, über Beutezüge und ähnliche
Unternehmungen.
Mehrere Markgenossenschaften zusammen bildeten den Gau-
v er band, der im Gegensatze zu den natürlichen Blutsverbänden
eine politische Einrichtung darstellte. Die Männer von
fünf bis zehn Gemeinden traten zur Zeit des Neu- oder des Voll¬
mondes zum Gauding, zur Gerichtssitzung zusammen; die