Full text: Deutsches Lesebuch für höhere Mädchenschulen (Teil 5, [Schülerbd.])

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schließen, in dessen Innern sich eine Grotte mit den Gräbern Gottfrieds 
von Bouillon und seines Bruders befindet. Der mittlere Teil der 
Gesamtkirche, das sogenannte Chor der Griechen, ist der ansehnlichste 
und zugleich am prächtigsten geschmückte Raum. Drei Gitterthüren 
führen von da in die eigentliche Kirche des heiligen Grabes. Zwei 
Säulengänge, der eine über dem andern, laufen längs ihrer runden 
Wände. Über ihnen wölbt sich eine majestätische Kuppel, durch deren 
Öffnung das Tageslicht prächtig hereinströmt. Senkrecht darunter 
steht, wie eine kleine Kirche in einer großen, das heilige Grab, von 
weißem Marmor aufgeführt. Im Innern enthält es zwei in den 
Kreidefelsen gehauene, aber gleichfalls mit Marmor überkleidete Ge¬ 
mächer. Durch die Eingangspforte, vor welcher vier hohe silberne 
Leuchter mit armdicken brennenden Wachskerzen stehen, gelangt man 
zuerst in ein kleines Gemach, die Engelskapelle. Aus dieser tritt man 
tief gebückt durch ein enges Pförtchen in die eigentliche Grabkammer, 
deren größere Hälfte der Altar einnimmt, welcher den Felsensarg des 
Herrn bedeckt. Viele kleine Nischen umgeben den Altar, geschmückt 
mit goldenen und silbernen Leuchtern und Gefäßen. Viele Lampen — 
Geschenke von Päpsten, Kaisern und Königen — erleuchten die Grotte 
Tag und Nacht. Die Luft ist erfüllt vom Dufte des Weihrauchs, der 
hier reichlich angezündet wird. Alles ist still. Niemand wagt, ein 
lautes Wort zu sprechen. 
Wir durchschritten das nach dem Blutzeugen Stephanus benannte 
Thor, und vor uns lag das tiefgeschluchtete Thal Josaphat und gegen¬ 
über der Ölberg. Wir gingen den steilen Fußpfad hinab und über 
die Brücke des im Sommer wasserleeren Kidron. Jenseits stehen wir 
an einem ummauerten Gartenraume. Wir klopfen an die kleine Pforte, 
und wir sind in Gethsemane. Es ist ein viereckiger Platz, mit vielen 
Blumenbeeten und acht zerstreut stehenden, uralten Olivenbäumen ge¬ 
schmückt. Eine feierliche Stille umgab uns. Kein Geräusch der Stadt 
drang zu unseren Ohren. Ein junger Franziskanermönch saß in einer Ecke 
des Gartens und betete leise aus einem Buche. Unwillkürlich trat mir 
das Bild des Erlösers vor die Seele, wie er hier trauerte und zagte. 
Wir stiegen den Ölberg hinauf. Drei Gipfel liegen nebeneinander, 
von denen der mittlere vorzugsweise der Ölberg genannt wird. An 
die vielen und trefflichen Ölbäume, welche diesem Höhenzuge den 
Namen gaben, erinnern nur noch etwa fünfzig Stämme, welche sich 
wie eine irrende Herde über ihn hin zerstreuen. Hier und dort liegt 
ein Stück Getreidefeld, stehen vereinzelte Mandel- und Feigenbäume. 
Nur in der Regenzeit gewinnt der Berg ein lachendes, erfreuendes
	        
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