102
B. Zur Länderkunde,
Italiens gegenüber den unablässigen Überfällen der kleinafrikanischen Seeräuber —
wir haben selbst noch in Sizilien alte Leute gekannt, welche in die Sklaverei nach
Tunis geschleppt worden waren — nur solche Küstenplätze halten, welche mit einem
Hafen natürliche Festigkeit verbanden; wo solche Punkte fehlen, da wurde die Be-
völkerung, wie namentlich in Kalabrien, von de,: Küsten weg aus die steilen Höhen
in Angesichte des Meeres gedrängt. Andrerseits aber hat sich auch die Feudalzeit in
diesen großen Siedelungen verewigt, indem die zahlreichen kleinen Herren Mittel-
und Oberitaliens ihren Herrschersitzen mit allen Mitteln Glanz zu verleihen suchten,
in Unteritalien in der spanischen Zeit die Feudalherren bemüht waren, durch Schaf-
fuug großer Güter mit namhaften Mittelpunkten ihr Ansehen zu heben, neue Ehren
und Titel zu erlangen. Fast die Hälfte aller fizilischen Städte besteht aus derartigen
geschichtslosen Neugrüudungen aus der Zeit des 16. bis 18. Jahrhunderts. Die andere
Hälfte dagegen geht auf Phöniker, Karthager, Griechen, wohl auch noch weiter zurück
und umfaßt, durch ausgezeichnete Lagenverhältnisse bedingt, hervorragend geschicht-
liche Stätten.
Sehr bezeichnend ist es, daß in Insel- uud Halbiusel-Jtalieu alle größereu, ge-
schichtlich wichtigen Städte am Meere liegen, meist mit einem Hafen natürliche
Festigkeit der Lage verbindend: Messina, Catania, Agosta, Syrakus, Trapaui, Palermo,
Milazzo, Tarent, Brindisi, Ancona, Neapel, Pozznoli, Gaeta, Cagliari usw. Nur
Rom uud Floreuz machen eine Ausnahme, obwohl auch sie beide dem Meere ucihe
liegen und sehr wichtige Seeverbiuduugeu, Florenz namentlich im späteren Mittelalter,
wo es sich zur Erbiu des vom Meere abgedrängten Pisa machte, unterhielten. Beide
liegen auch bereits, wie die Städte Oberitaliens, an Flüssen, während in Süditalien
die Flüsse von größeren Siedelungen durchaus gemieden werden. Bei beiden fallen
besonders die geographisch bedingten Beziehungen zum Apenninenlande, zur adria-
tischen Küste und zum Norden ins Gewicht. In Oberitalien liegen nur zwei Groß-
städte am Meere, Venedig und Genua, beide mit natürlichen Häsen Festigkeit der
Lage verbindend; ersteres spiegelt mehr die große Vergangenheit wider, während
letzteres die Gegenwart Italiens zur See veranschaulicht. Venedig lag bis zur Bah-
uuug guter Alpenstraßen und bis zur Durchbohrung des St. Gotthard für die Be-
ziehuitgeit zu Deutschland und zum Orient günstiger, wie dies noch heute nahe bei-
einander am Canale grande das deutsche und das türkische Kaufhaus veranschaulichen.
Selbst wenn es gelingt, die Naturkräfte, welche Venedig bedrohen, dauernd abzn-
halten, wird diese Stadt doch kaum wieder mit Genua zu wetteifern vermögen, denn
die Beziehungen zum Osten, auch zu dem fernsten, für welchen Genua kaum minder
günstig liegt, werden in absehbarer Zeit nicht die Bedeutung erlangen, wie diejenige
zur Neuen Welt, der sich Genna zuwendet, dem in der Lombardei und Piemont,
weiterhin in Südwestdeutschland ein reiches Hinterland erwachsen ist, während es
zugleich der natürliche Mittelpunkt der dicht besiedelten, rührigen ligurischeu Küste
von Spezia bis Ventimiglia ist. Venedig dagegen thront einsam mitten in einem
Sumpf- und Haffgebiet am Außenrande eines 15 bis 20 km breiten unwirtlichen
Gürtels, der das besiedelte Innere vom Meere scheidet. Neben diesen beiden einzigen
Seestädten besitzt aber Festlands-Jtalien noch ein Mailand, Turin und Bologna,
neben vielen anderen bedeutenden Brennpunkten geschichtlichen Lebens: Verona,
Bergamo, Brescia, Como, Alessaudria, Piacenza, Cremona, Mantna, Ferrara, Mo-
dena, Parma usw. Bologna ist der Schlüssel Halbinsel-Jtaliens von Norden her und
der Knotenpunkt aller dorthin, sei es längs dem Meere, sei es über den Apennin,
gehenden ^Straßen; Turin, der natürliche Mittelpunkt Piemonts, vereinigt in sich