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geht es vorwärts im höchst überraschenden Uebergange, aus dem rauhen
Gebirgslande zum milden, sonnigen Obst-, Wein- und Maislande. Einige
Mal schon ist die blinkende Fläche des Sees vor dem spähenden Auge
wie ein Blitz vorübergestogen; nun, während der Blick noch an den
blauen Alpen hängt, ist plötzlich Lindau erreicht, der Spiegel des Sees
liegt offen da, und die kleine Jnselstadt bildet den idyllischen Vorder-
grund eines Gemäldes, mit dem sich kein anderes rheinisches Landschafts-
bild messen kann. Auch an Burgruinen und historisch merkwürdigen
Punkten sind die User des Bodensees so reich, wie es nur irgend eine
Strecke des Rheinlaufes sein mag.
2. Winterliche Gletscherwanderung im Hochgebirge des
Oetzthals.
Nimm eine Karte von Tyrol zur Hand, dringe mit deinem Blicke
über den Zug der Nordalpen, die vom Bodensee bis an die Grenze Ober-
Österreichs und Steiermarks ziehen, und versetze dich südwärts in das Gebiet
der Centralalpen, welche dir schon das Kartenbild weißschimmernd zeigt —
diese verhältnißmäßig großen weißen Stellen bezeichnen die weiten Gletscher-
gebiete, die von der Schweizer Grenze bis zum Ankogl in das Gastein-
Thal von den Schneehäuptern herabhängen und denOetzthaler-, Stu-
baier-, Zi llerthaler- und H oh e - Tauern Gebirgsgruppen angehören.
Bei Martinsbruck tritt der Inn aus dem Unter-Engadin in's Tyrol;
ein wenig östlich von Martinsbruck findest du das Städtchen Nauders,
das bereits 4164' über dem Meere liegt. Die in's Süd-Tyrol führende
Straße steigt aber noch und überschreitet einen Sattel nicht weit vom
Dorfe Neschen, die Neschen-Scheideck (4431'); dort ist die Wasserscheide
zwischen dem Schwarzen- und Adria-Meer. Unweit des Dorfes Neschen
entspringt die Etsch, welche die dem Lauf des Inn entgegengesetzte Nich-
tung einschlägt, nämlich nach Süden. Von Glurns nach Meran muß sie
aber östlich fließen; sie wird in die Mitte genommen: auf der linken
nördlichen Seite von der Oetzthal-Hochgebirgsgruppe, auf der
rechten oder südlichen Seite von der Ort les-Gruppe; das Thal zwi-
schen den beiden heißt Vintschgau.
Nun sieh dir das Oetzthaler - Gebiet näher an; es ist fast Ein zu-
sammenhängendes eisiges Firn- und Gletschermeer, aus welchem die hohen
Kämme und Kugeln hervorragen, starr, groß, gewaltig. Fünf Gipfel
dieser erhabenen stillen und öden Alpenwelt erreichen eine Höhe von
mehr als 11,000 Fuß — die Weißkugel ist 11,523', die Venter Wild-
spitze 11,626' hoch.
Am Südabhange dieses Bergriesen liegt, einsam und verlassen, der
kleine Ort Vent (Fend), der zu arm, um einen Pfarrer zu ernähren,