Full text: Charakterbilder deutschen Landes und Lebens für Schule und Haus (Theil 3)

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entgegen. Aber auch die Wirklichkeit nimmt gleich am Eingange ihren 
Anfang. Da, auf dem Rasenplatz rechts, steht zunächst der Circus, die 
Herzensfreude kleiner und großer Kinder; dann das Hippodrom mit seinen 
lebensmüden Gäulen und den glücklichen Sonntagsreitern, und dann 
weiter wieder die hölzernen Hütten mit den hundert Merk- und Sehens- 
Würdigkeiten, den Menagerien, den Weltwundern, und auf riesengroßen 
Leinwänden sind die Ungeheuer noch fürchterlicher gemacht, und diese 
Gemälde, dies exotische Schreien und Pfeifen, Girren und Brüllen im 
Innern lockt die Leute, so daß vor dem Eingange stets ein dichtes Ge- 
dränge ist. Auf dem Rasenplatze stehen auch noch Buden mit Früchten 
und Gebäcke, ein Kroate mit Schwamm und Feuersteinen, ein Mann mit 
Spazierstöcken und einer mit einem Leierkasten und einem Hunde darauf, 
der gar aufrecht stehen und mit dem Schwerte in seiner Pfote schultern 
kann. — An all' diesen Dingen vorüber geht der breiteste Menschenstrom 
in die sogenannte Hauptallee hinein; denn dort ist heute die höchste, hohe 
und niederste Wienerwelt zu sehen — was an Pracht der Kleider, der 
Dienerschaft und Equipagen nur immer Laune und Reichthum ersinnen 
konnte, ist heute in der Hauptallee zu sehen. Zu beiden Seiten sind 
schattige Alleen, eine für die Fußgänger, die andere für die Reiter; mitten 
in der Straße fahren viele Tausend Wagen, einer hart an dem andern, 
der Sicherheit wegen auf einer Seite hinab, auf der andern hinauf, und 
diesen Kreis machen viele oft mehrmals, um zu sehen und um gesehen 
zu werden — das ist nun eigentlich der Ort, wo sich Farbe an Farbe 
drängt, Reiz auf Reiz, Pracht auf Pracht, Masse an Masse, so daß Dem 
schwindelt, der es nicht gewohnt ist. Zu beiden Seiten der Straße stehen 
dichtgedrängt die Zuschauer, und hinter ihrem Rücken wogt der bunte 
Strom der Spaziergänger, während in der Mitte Wagen an Wagen 
rollt, eine glänzende, schimmernde Linie, wohl über eine halbe Meile 
lang. Dort schwebt in ihren: Wagen die Dame des höchsten Standes, 
prachtvoll einfach gekleidet, mit wenigen, aber kostbaren Schmuckstücken 
geziert, gleich hinter ihr die Familie eines reichen Bürgers, dort ein 
Wagen voll fröhlicher Kinder, die ihres Staunens und Jubelns kein 
Ende finden über die Pracht, die sie umgiebt; hier kommt ein Mann 
ganz allein in seinem Wagen stehend und mit den vier unvergleichlichen 
Pferden zum ersten Male paradirend; jetzt sprengen Reiter vorüber und 
grüßen die in einem Wagen sitzenden Damen, dort sitzt ein alter Mann 
einsam in seiner schweren Carosse, er ist in feines Schwarz gekleidet und 
trägt viele winzig kleine Kreuzlein auf der Brust; dann kommt ein Fiaker 
mit seligen Kaufmannsdienern oder Studenten — dann Andere und 
wieder Andere — und so siehst Du ein Schauspiel, wie es Dir doch 
nur der Prater bieten kann. Nur der muntere Hirsch, der vor kurzem 
noch so ganz nahe an der geputzten Menge Halt machte, das stattliche 
Geweih zurückhaltend und in das Gewühl glotzend, ist hier nicht mehr 
zu schauen. Die moderne Cultur, die den alten Prater nach dem Muster 
des Bois de Boulogne zustutzt und bekiest, sie hat ihn aus seinem hundert¬
	        
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