Full text: Deutsches Lese- und Bildungsbuch für katholische Präparandenanstalten

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339. Der Wegenwurm. 
Julius Stinde. 
Zu den übelbeleumundeten Geschöpfen gehört immer noch der Regenwurm, 
allein nachdem allerlei Intimes aus seinem Nachtleben ermittelt worden ist, 
wird die Welt über ihn auch besser denken und milder urteilen lernen als bisher. 
Man war nämlich bis vor etlicher Zeit immer noch nicht im klaren dar¬ 
über, ob der Regenwurm ein nützliches oder ein schädliches Geschöpf sei. Die 
Jungen, welche für die Sonntagsangler die sogenannten Pieresel suchen und 
dieselben an die Herren Kunstfischer verkaufen, sind natürlich der Meinung, 
daß der Regenwurm, weil ein kleines Verdiensichen einbringend, ein sehr nütz¬ 
liches Geschöpf sei. Frau Soundso, deren schöner Blumenstock elendiglich zu¬ 
grunde ging, weil Regenwürmer in dem Topf saßen, hält diese Wesen für verab¬ 
scheuungswürdig und schädlich. Daher ist es vom rein rechtlichen Standpunkte 
aus wünschenswert, daß dem übelbeleumundeten Regenwurm ein Anwalt ge¬ 
stellt werde, der den Kampf mit der öffentlichen Meinung aufnimmt, die noch 
immer behauptet: „Man weiß doch, daß der Regenwurm die Wurzeln der 
Pflanzen abnagt und Schaden stiftet." 
Es macht uns ein außerordentliches Vergnügen, bestätigen zu können, daß 
in der Regenwurmangelegenheit sich auch ein Verteidiger gefunden hat, der mit 
gewichtigen sachlichen Gründen, die auf zahlreichen Untersuchungen beruhen, 
alle Anklagen zurückschleudert und die ganze Sippe der Regenwürmer so rein 
von jeder Schuld wäscht, daß fühlende Menschen geneigt sein würden, weiße 
Festkleidchen für die Ehrlichgemachten anfertigen zu lassen, wenn nicht der 
Körperbau der Regenwürmer von vornherein sich gegen jegliche Art von Be¬ 
kleidung verwahrte. Dieser Beobachter und Verteidiger ist Herr Hensen, dessen 
Enthüllungen aus dem Leben des Regenwurmes sehr viel des Wissenswerten 
bieten. 
Der Regenwurm baut sich in der Erde eine Wohnung, die einer langen 
Röhre gleicht, welche drei bis vier, ja selbst bis zu sechs Fuß in die Tiefe ab¬ 
wärts geht und dort oft umbiegt und eine kleine Strecke weiter horizontal 
verläuft. Am Ende der Röhre sitzt der Wurm, den Kopf nach oben, in 
ruhiger Beschaulichkeit, während rings um ihn die Röhre mit kleinen Steinen 
austapeziert ist. Ob er durch diese Steintapete das Zusammenfallen des 
Schachtes verhindern will, oder ob er seine Wohnung aus kunstgewerblicher 
Neigung schmückt, das ist noch nicht ermittelt worden, jedenfalls wird aber von 
nun an dem Angler, der einen Regenwurm als Köder auf den Haken spießt, 
das Gewissen ein wenig unruhig werden, wenn er bedenkt, daß er in jedem 
Regenwurm ein kleines Kunstgenie hinopsert, das sein Haus ebensowohl mit 
Mosaik aus kleinen Steinen ziert, wie einst die Pompejaner die Wände ihrer 
Wohnungen mit musivischen Arbeiten versahen. 
Wenn der Wurm Hunger spürt, kriecht er in seiner Röhre in die Höhe, 
wozu er besonders feuchte Nächte auswählt, und sucht, indem er sich mit dem 
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