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II. Lehrende Prosa: Poetik und Ästhetik.
gelehrten Casaubonus (1559—1614) bei mir gelacht zu haben, der sich ans
wahrer Hochachtung für das Solide in den Wissenschaften einbildete, daß
es dem Aristoteles vornehmlich um die Berichtigung der Chronologie bei
seinen Didaskalien zu thun gewesen. Wahrhaftig, es wäre auch eine ewige
Schande für den Aristoteles, wenn er sich mehr um den poetischen Wert
der Stücke, mehr um ihren Einfluß aus die Sitten, mehr um die Bildung
ihres Geschmackes darin bekümmert hätte, als um die Olympiade, als
um das Jahr der Olympiade, als um die Namen der Archonten, unter
welchen sie zuerst aufgeführt worden!
Ich war schon willens, das Blatt selbst Hambnrgische Didaskalien
zu nennen. Aber der Titel klang mir allzu fremd, und nun ist es mir
sehr lieb, daß ich ihm diesen vorgezogen habe. Was ich in eine Drama¬
turgie bringen oder nicht bringen wollte, das stand bei mir. Aber wie
eine Didaskalie aussehen müsse, glauben die Gelehrten zu wissen, wenn
es auch nur aus den noch vorhandenen Didaskalien des Terenz wäre,
die eben dieser Casaubonus drovitor 6t eleganter scriptas nennt. Ich
hatte weder Lust, meine Didaskalien so kurz, noch so elegant zu schreiben,
und unsere jetzt lebenden Casauboni würden die Köpfe trefflich geschüttelt
haben, wenn sie gefunden hätten, wie selten ich irgend eines chronologischen
Umstandes gedenke, der künftig einmal, wenn Millionen anderer Bücher
verloren gegangen wären, auf irgend ein historisches Faktum einiges Licht
werfen könnte.
Was sonst diese Blätter werden sollten, darüber habe ich mich in der
Ankündigung erklärt; was sie wirklich geworden, das werden meine Leser
wissen. Nicht völlig das, wozu ich sie zu machen versprach; etwas anderes,
aber doch, denke ich, nichts Schlechteres.
„Sie sollten jeden Schritt begleiten, den die Kunst sowohl des Dich¬
ters als des Schauspielers hier thun würde."
Die letztere Hälfte bin ich sehr bald überdrüssig geworden. Wir
haben Schauspieler, aber keine Schauspielkunst. Wenn es vor alters eine
solche Kunst gegeben hat, so haben wir sie nicht mehr; sie ist verloren;
sie muß ganz von neuem wieder erfunden werden. Allgemeines Geschwätz
darüber hat man in verschiedenen Sprachen genug; aber specielle, von
jedermann erkannte, mit Deutlichkeit und Präcision abgefaßte Regeln, nach
welchen der Tadel oder das Lob des Acteurs in einem besondern Falle
zu bestimmen sei, deren wüßte ich kaum zwei oder drei. Daher kommt
es, daß alles Raisonnement über diese Materie immer so schwankend und
vieldeutig scheint, daß es eben kein Wunder ist, wenn der Schauspieler,
der nichts als eine glückliche Routine hat, sich ans alle Weise dadurch
beleidigt findet. Gelobt wird er sich nie genug, getadelt aber allzeit viel
zu viel glauben, ja öfters wird er gar nicht einmal wissen, ob man ihn