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Zweiter Theil.
Mittlere Geschichte, von der Erscheinung des Christen¬
thums bis auf die Entdeckung der neuen Welt,
ein Zeitraum von 1492 Jahren.
I. Periode.
Von Christus bis Odoaker, oder von der Erscheinung des
Christenthums bis zum Untergange des weströmischen
Kaiserthums. 1 — 476.
Das Christenthum.
Im Anfänge der Mittlern Geschichte drängen sich vor Allen zwei
Hauptbegebenheiten hervor, die Stiftung und Ausbreitung
des Christenthums, und der Untergang des römischen
Weltreiches, auf dessen Trümmern sich germanisch-christliche
Staaten in Europa bilden.
Bei dem Beginne des römischen Kaiserreiches war der Zustand
des gebildeten Theiles des Menschengeschlechts der Art, daß sich darin
ebensosehr das Bedürfniß nach einer außerordentlichen Hilfe, als
die Fähigkeit, eine vollkommene Offenbarung Gottes aufzuneh¬
men, ausdrückt. Denn einer Seits war, was das Alterthum Großes
im Leben, in der Kunst und Wissenschaft hervorbrachte, größtentheils
verblüht; die alten Religionen, in einen entsittlichenden Formalismus
versunken, konnten dem verödeten menschlichen Gemüthe keinen Trost
mehr gewähren zur Befriedigung seiner Sehnsucht nach dem Ewigen;
die Sittenlosigkeit und Entartung aller Stände hatte einen solchen
Grad erreicht, daß durch Menschen nicht mehr geholfen werden konnte.
Der edle römische Geschichtschreiber Livius selbst legt darum über
die Heillosigkeit jener Zeit das trostlose Bekenntniß ab: Wir sind
in eine Zeit gera'then, wo wir weder unsere Verderb-
niß, noch die Mittel dagegen ertragen können.
Anderer Seits war durch die weite Ausdehnung der römischen
Herrschaft über die meisten gebildeten Völker der alten Welt die
feindliche Schranke, welche seither jene von einander entfernt hielt,
gefallen; das Morgen- und Abendland waren durch Politik, Handel,
Sitten und Sprache, besonders die griechische, einander näher ge¬
bracht, so daß hiedurch eine schnelle und dauernde Verbreitung der
Offenbarung möglich wurde.