Full text: [Geschichte des Mittelalters] (Theil 2)

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Gestützt auf die jugendliche Begeisterung der neubekehrten germanischen 
Volksstämme, brachte die Priesterschaft nicht nur einen sehr 'großen Theil 
des irdischen Besitzes an sich, sondern sie zog auch alle Verhältnisse, die 
mit der Religion in irgend einer Beziehung standen, vor ihr geistliches 
Forum und erlangte dadurch eine Macht aus das gesammte Leben und den 
ganzen Gedankenkreis der mittelalterlichen Menschheit, daß die Kirche die 
eigentliche Herrscherin und Gebieterin war. Der Staat, aller edleren Be- 
standtheile beraubt, war ein Tummelplatz für alle bösen Triebe, der nur 
durch die Weihe der Kirche der Sünde und dem Verderben entrissen werden 
konnte. Die Bildung und die Wissenschaft waren ausschließlich in ihren 
Händen, und die heiligen Künste, die sich in den Domkirchen vereinigten, 
dienten zu ihrer Verherrlichung. Die Kreuzzüge waren ihr höchster Triumph. 
Aber der Mißbrauch, den die Hierarchie von ihrer Gewalt machte, und das 
sichtbare Streben, den menschlichen Geist unter der Fülle von kirchlichen 
Satzungen und Cercmonialvorschriften gefangen zu nehmen, während doch 
die geistlichen Würdenträger selbst oft sehr weit von dem Wege der Heilig¬ 
keit abirrten, brach allmählich ihre Macht und ihr Ansehen. Wohl ver¬ 
mochte noch das Papstthum aus seiner Höhe das ruhmreiche Kaisergeschlecht 
der Hohenstaufen zu fällen; aber die Entartung der Lehnsverhältnisse, die 
im Gefolge der kaiserlosen Zwischenzeit über Europa hereinbrachen, begrün¬ 
dete auch eine verweltlichte Gesinnung und erschütterte die Kirche in ihren 
Grundfesten. Diesen Verfall des Mittelalters stellt die fünfte Periode 
dar. In derselben bildet das Städteleben mit seiner Kraft und Kultur, 
mit seiner Regsamkeit und Lebenslust, mit seinem Wohlstand und seiner 
Freiheitsliebe den einzigen heitern Lichtblick. An den festen Mauern der 
Städte zerschellte die rohe Kraft des entarteten Ritterthums; an ihrer 
bürgerlichen Literatur nährte sich der Geist der kirchlichen Opposition, der 
endlich, als die Kirche hartnäckig jede Selbstreinigung von sich wies, die 
Reformation hervorrief; aus ihrer strebsamen Bürgerschaft gingen die 
Männer hervor, welche die Buchdruckerkunst erfanden, Amerika entdeckten 
und aus Italien die Werke der alten griechisch-römischen Literatur nach 
Deutschland verpflanzten und sie zur Grundlage neuer, freierer Lebens¬ 
anschauungen machten.
	        
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