Full text: [Geschichte des Alterthums] (Theil 1)

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zu bezeichnen, das war seine Bestimmung. Was wäre die römische Ge¬ 
schichte geworden^ wenn griechische Poesie, Kunst und Wissenschaft nicht 
ihre eiserne Strenge gemildert hätte, und was wären wir geworden, wenn 
an der Grenze des Mittelalters nicht griechische und römische Bildung in 
Deutschland der Freiheit des Geistes die Wege gebahnt hätte?' 
Hellas mußte fallen, nachdem seine Aufgabe erfüllt war. Alexander 
der Große nahm die Erbschaft auf. Den Orient, dessen Macht sich an 
dem Griechenthume brach, hat er dem Westlande geöffnet, die Schranken 
der Völker hat er niedergerissen; was den einzelnen gehörte, wurde Ge¬ 
meingut aller, und das Band der hellenischen Bildung verknüpfte fortan 
die civilisirten Länder der alten Welt. 
Indessen hatte Rom bereits sein mächtiges Scepter erhoben. In dem 
inneren Streite der Parteien um die Herrschaft, und den äußeren Erobe¬ 
rungskämpfen um die Macht und Größe des Reiches entwickelte sich in 
folgerichtiger Steigerung die Kraft des Staates und die Form der Gesetze. 
Der kalte Verstand trat an die Stelle der enthusiastischen Begeisterung, 
die Politik mußte den Mangel' poetischen Gefühles ersetzen. Die Blume 
war vom Baume des Lebens gefallen; die Frucht begann in herber 
Schale zu reisen. 
In der Nähe der Gegenwart erscheinen die geschichtlichen Vorgänge 
gerade zur Zeit der wichtigsten Wandelungen nicht selten hart und unschön. 
Das persönliche weiche Gefühl kann die Opfer nicht ertragen und fürchtet 
sich vor den Stürmen, welche den Entwickelungsgang des Ganzen begleiten. 
In der Ferne der Vergangenheit aber rückt Alles an die richtige Stelle, 
und was uns anfänglich zurückstieß, erscheint als zweckmäßig, als nothwen- 
dig, ja sogar als schön in seiner großartigen Ordnung und Folgerichtigkeit. 
Nachdem alle bis jetzt in dem Kreis der Geschichte aufgetretenen 
Völker sich unter der römischen Republik vereinigt hatten, und alle For¬ 
men der republikanischen Regierung versucht und abgebraucht waren, stürzte 
sie selbst im Sturme der Volksherrschaft, nicht aber, um wie Griechen¬ 
land der Gewalt eines fremden Herrschers anheim zu fallen. Denn so 
groß war die dem römischen Staate innewohnende Lebenskraft, daß er in 
der Auflösung aller Bande selbst die Macht fand, einen ganz neuen Kreis 
des Weltregiments als Monarchie zu durchlaufen. 
Im Verlaufe dieser großen Zeiträume hatten die geistigen Interessen 
der Völker nicht minder in und mit der politischen Entwickelung, durch sie 
bedingt und von ihr gefolgt, ihre selbstständige nationale und allgemeine 
Geschichte durchlebt. Am tiefgreifendsten und bedeutsamsten ist be¬ 
greiflicher Weise allenthalben die Umwandlung der religiösen Anschauun¬ 
gen geworden. Während durch den offenen Verkehr die orientalischen 
religiösen Elemente den Glaubenskreisen der westlichen Kulturstaaten sich 
beimischten, löste sich allmählich der alte fromme Götterdienst zu eiuem 
leeren Gepränge auf. Die Poesie und Wissenschaft ging, mündig gewor¬ 
den, ihre selbstständigen Wege; sie bedurfte des ursprünglichen mütterlichen
	        
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