109. Die Vehmgerichte.
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109. Die Vehmgerichte.
(Nach Soi). Heinr. Karl Förster, Geschichte der Deutschen und der Grundzüge
des deutschen Rechtes.)
Nach dem Sturze Heinrichs des Löwen gelangten unter Kaiser
Friedrich I. verschiedene Stände in Norddeutschland zur Reichsunmittcl-
barkcit, erkannten demnach keine herzogliche Gerichtsbarkeit mehr an und
die kaiserliche Gerichtsbarkeit über die Freien, zunächst zwischen der
Weser und dem Niederrhein, wurde dem Erzbischof von Köln übertra¬
gen. Diese enthielt unter dem Namen Freigrafschaft auch das Recht,
vermöge des Blutbannes über Verbrechen zu richten *), wogegen die her¬
zoglichen Gaugrasen bei den alten Gaugerichteu über alle nicht gegen
Freie anhängig gemachten Sachen entschieden. Der Hanptsitz der Frei¬
oder Vehmgerichte war zu Dortmund, doch wurden bisweilen auch Ver¬
sammlungen zu Arnsberg und anderwärts in Westfalen gehalten. Den
Vorsitz führte der Freigraf oder Dinggraf (Uber cornes, frigravius),
die Beisitzer wurden Freischöffen oder Wissende genannt und entweder
von dem Erzbischöfe zu Köln oder von dem Kaiser als Oberstuhlherru
ernannt. Stuhlherr war derjenige, welcher das Gericht durch Beleh¬
nung empfangen hatte.
Das Fr ei g er ich t war entweder ein öffentliches (offenbares) oder
ein heimliches. Zum letzteren wurde nur zugclassen, wer durch die
heimliche Acht feierlich zum Schöffen des Gerichtes ausgenommen war,
und nur ein solcher lernte die Einrichtung des Gerichtes und seines
Verfahrens kennen. Keiner vom Volke kannte die Freischöffen, außer
denen, die zum freien Stuhle selbst gehörten und diese waren durch den
fürchterlichsten Eid verbunden, Vater und Mutter, Bruder und Schwe¬
ster und Verwandte den Wissenden anzuzcigen, wenn sie ein Verbrechen
begangen hatten, die Vervehmten zu verfolgen und zu vernichten. Nie¬
mand erfuhr, von wem er angeklagt war. Heimliches Gericht hieß die
Vehme zunächst von dem alten Unterschiede zwischen dem echten unge-
botencn Ding oder Gericht, zu welchem sich die ganze Volksgemeinde
oder Gaugrafschaft versammelte, und dem besonderen geschlossenen, zu
welchem der Richter in speciellen Fällen nur die Genossen berief. Es
hielt seine Sitzungen an der gewöhnlichen Malstatt unter freiem Himmel,
nicht an verborgenen Orten oder in düsteren Gewölben.
Das Verfahren gegen angeklagte Wissende war folgendes: Es erging
an sie eine dreimalige Vorladung, jedesmal mit einem Termine von
mindestens 6 Wochen und 3 Tagen, nach deren fruchtlosem Abläufe
sie vervehmt werden konnten. Bei Nacht schlichen die Freischöffen oder
der Frohnbote an die Mauern eines Schlosses oder einer Stadt und
*) Die Vehme richtete insbesondere über Ketzerei, Mord, Verrätst, Raub (na¬
mentlich Beraubung der Kranken und Leichen), Diebstahl, Meineid, Fälschung,
Mordbrand.